In einem Fachgespräch am 7. November 2018 diskutierten Mitglieder der Grünen Bundestagsfraktion mit Expertinnen und Gästen über Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Gemeinsam gingen sie der Frage nach, welche Möglichkeiten der Bund hat, Länder und Kommunen bei der Vorbeugung gegen und der Bekämpfung von Wohn- und Obdachlosigkeit zu unterstützen.
HINTERGRUND
Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist ein zunehmendes Problem in unserem Land. Es ist paradox: Wir haben sehr niedrige Arbeitslosenzahlen und eine florierende Wirtschaft, aber trotzdem bleibt die Armutsquote auf einem hohen Niveau und die Zahl der Menschen, die kein Dach über dem Kopf oder keinen festen Mietvertrag haben, steigt stetig an. Das Problem reicht immer weiter in der Mitte unserer Gesellschaft herein. Die Bundesregierung schaut jedoch demonstrativ weg. Beim Wohngipfel im Kanzleramt Ende September waren zum Beispiel Verbände, die sich für die Interessen der Wohnungs- und Obdachlosen einsetzen, konsequent ausgeschlossen.
WOHNUNGS- UND SOZIALPOLITISCHER HANDLUNGSBEDARF
Das Fachgespräch hat gezeigt, dass sozial- und wohnungspolitische Aspekte zusammengedacht werden müssen. Frau Rosenke, Geschäftsführerin der BAG Wohnungslosenhilfe, legte eine Liste von Handlungsfeldern vor, auf denen der Bund tätig werden müsse. Neben der Beteiligung des Bundes an der sozialen Wohnraumversorgung, einer dauerhaften Sozialbindung für Wohnungen, einer wirksamen Mietpreisbremse und der Abschaffung von Sanktionen bei den Kosten der Unterkunft wurde sehr deutlich, dass wir zu allererst eine verpflichtende, bundeseinheitliche Wohnungsnotfallstatistik benötigen, um das ganze Ausmaß von Wohn- und Obdachlosigkeit erfassen zu können.Solch eine Statistik fordern wir Grüne im Bundestag bereits seit Jahren. Die Bundesregierung hält sich hierzu leider sehr bedeckt, über Zeitplan und Details einer Umsetzung werden wir im Unklaren gelassen. Die Wohnungslosenstatistik ist nicht einmal im Koalitionsvertrag erwähnt.
PRÄVENTION UND BEKÄMPFUNG
Prof. Dr. Volker Busch-Geertsema von der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS e.V.) stellte fest, dass einige gesetzliche Regelungen zu den Präventionsmöglichkeiten und –pflichten in Deutschland als Vorbild für andere Länder dienen könnten. Allerdings müssten einige Gesetze dringend geändert und die Umsetzung verbessert werden. Dass die Kompetenzen und Ressourcen zur Vermeidung und Behebung von Wohnungslosigkeit auf kommunaler Ebene angesiedelt sind, sei richtig, nur sollte das von Bundesebene gefördert werden.Herr Busch-Geertsema forderte ein Bundesförderprogramm für Aufsuchende Hilfen der Kommunen für von Wohnungslosigkeit betroffene oder gefährdeten Menschen. Darüber hinaus solle die Abwendung von Wohnungslosigkeit durch Mietschuldenübernahme durch die Kommunen wieder einfacher möglich werden. Dazu müsse beispielsweise das Miet-Kündigungsrecht so geändert werden, dass Kommunen fristlose Kündigungen bei Zahlungsrückstand der Miete wieder durch die Mietschuldenübernahme abwenden können. Daher darf die hilfsweise ordentliche Kündigung nicht mehr die fristlose Kündigung unwirksam machen. Das Mietrecht muss auch dahingehend geändert werden, dass soziale Träger einen besseren Kündigungsschutz erhalten.
"WER JETZT KEINE WOHNUNG HAT, FINDET AUCH KEINE MEHR" (FREI NACH RILKE)
Rolf Keicher von der Diakonie Deutschland betonte sehr deutlich, dass Wohnen ein Menschenrecht sei. Der Zugang zu einer Wohnung sei die Voraussetzung für ein gelingendes Leben, für Menschenwürde und Sicherheit. Das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, wozu eine ausreichende Unterbringung gehört, ist in Artikel 11 des UN-Sozialpakts formuliert. Wohnen kann man jedoch nur mit einer Wohnung.So stellte Herr Keicher seine Anforderungen an die Bundesebene vor: keine Sanktionen bei den Kosten der Unterkunft, Streichung der Sonderregelungen für unter 25-Jährige im SGB II, Einführung einer neuen Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau. Vorstellbar sei auch, Kautionen und Genossenschaftsanteile als einmalige Leistung in der Grundsicherung zu übernehmen.Darüber hinaus schlug er eine Quotierung für Sozialwohnungen beim Neubau sowie für die Wohnversorgung von Menschen in Wohnungsnot vor. Belegungs- und Preisbindungen müssten außerdem eine lange Laufzeit haben – mindestens 30 Jahre. Und niemand dürfe seine Wohnung zum Beispiel durch Zwangsräumung verlieren, wenn kein Ersatzwohnraum zur Verfügung steht.
EIN NEUER ANSATZ: HOUSING FIRST
Karen Holzinger von der Berliner Stadtmission baute eine Brücke zwischen Theorie und Praxis. Sie stellte das Projekt Housing First vor, das Berlin seit Herbst 2018 als Modellprojekt etabliert hat. Gleich zu Beginn beschrieb Frau Holzinger die Schwierigkeit, überhaupt Wohnraum zu finden, um mit dem Projekt starten zu können. Das Dilemma: Der Berliner Senat stelle Gelder zur Verfügung, jedoch gelinge die Umsetzung nur schwer, weil keine Wohnungen gefunden würden.Der Ansatz von Housing First ist neu und dreht die Perspektive um: Wohnen ist demnach kein Gut, das man sich verdienen muss, für das man zeigen muss, in der Lage zu sein „gut und anständig“ zu wohnen, sondern die Wohnung steht am Anfang der Hilfen. Man bekommt einen Mietvertrag und wird dann individuell begleitet und unterstützt.In der Diskussion mit dem Publikum wurden die vielen Vorurteile bei der Wohnungsvergabe deutlich. Niemand wolle einen psychisch kranken Menschen zum Nachbarn haben. Frau Holzinger machte noch einmal deutlich, dass es bei Wohnungs- und Obdachlosigkeit um Menschenwürde geht, um Scham, um Existenz, um Gesundheit, um Teilhabe und menschliche Not.Es wurde deutlich, wie massiv das Wegsehen ist, die fehlenden Hilfen für Menschen mit großen psychischen Problemen, und die großen Probleme in der gesundheitlichen Versorgung. So berichtete Frau Holzinger über eine Zunahme an RollstuhlfahrerInnen unter den Obdachlosen, weil in der Notversorgung die Amputation oftmals die günstigere Lösung für die Krankenhäuser sei.
FAZIT
Abgeordnete der Bundestagsfraktion diskutierten intensiv und zum Teil auch emotional mit Fachleuten, ehemals Betroffenen, Verbänden, SozialarbeiterInnen, VerwaltungsmitarbeiterInnen und anderen Interessierten. Als Fazit standen am Ende des Fachgesprächs die Forderung nach der Wiedereinführung der Wohnungsgemeinnützigkeit und der Anpassung des Mietrechts. Die Grüne Bundestagsfraktion hat das Konzept der Neuen Wohngemeinnützigkeit erarbeitet. Mit dem Investitionsprogramm des Bundes Neue Wohngemeinnützigkeit könnte sich auf dem Wohnungsmarkt vieles grundlegend ändern, wie eine aktuelle Studie zeigt. Durch ein deutlich größeres Angebot an dauerhaft günstigen Mietwohnungen, insbesondere für Menschen, die sich sonst nicht angemessen mit Wohnraum versorgen können. Auch unser Zehn-Punkte-Plan für ein besseres Mietrecht greift bereits zahlreiche Ideen aus der Anhörung auf.Das Mantra der großen Koalition "Bauen, Bauen und Bauen" wird den wohnungs- und obdachlosen Menschen nicht helfen. Im Gegenteil, es befeuert eher die Immobilienspekulation. Dem gegenüber stehen zunehmend Menschen, die die Miete nicht bezahlen können.