„Ohne soziale Sicherheit ist Freiheit wenig wert"

Das Gespräch moderierte Timo Reuter und ist in der Print-Ausgabe der Frankfurter Rundschau am 29.10.2015 erschienen. Der vollständige Beitrag ist auch online hier zu finden.

Ein Beitrag von Timo Reuter für die Frankfurter Rundschau

Hartz IV abschaffen und jedem Bürger 1000 Euro im Monat zahlen: Macht das bedingungslose Grundeinkommen frei? Oder macht es faul? Ein Streitgespräch mit dem Linken Riexinger und dem Grünen Strengmann-Kuhn.

Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens ist heftig umstritten – und zwar quer durch alle politischen Lager. 1000 Euro für alle, ohne Zwang, ohne Bedingungen: Auch innerhalb des linken Lagers gibt es Befürworter wie Gegner. Einig sind sie sich zwar oft in ihren Zielen: Sie wollen Hartz IV abschaffen und treten für mehr Selbstbestimmung sein. Doch wie erreicht man das? Darüber debattiert Linken-Chef Bernd Riexinger mit dem sozialpolitischen Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, Wolfgang Strengmann-Kuhn.

Im traditionellen europäischen Verständnis wird Freiheit meist als Abwesenheit von Zwang verstanden. Reicht das schon, um von echter Freiheit zu sprechen?
Bernd Riexinger: Die Freiheit von Zwang ist wichtig, aber es reicht nicht. Denn ohne soziale Sicherheit ist Freiheit nur wenig wert.

Man muss sich Freiheit also leisten können?
Wolfgang Strengmann-Kuhn: Wenn jemand frei entscheiden soll, dann müssen die Mittel dazu da sein. Wir brauchen neben gleichen Rechten einen gleichen Zugang zu Ressourcen. Dazu gehören öffentliche Infrastruktur wie medizinische Versorgung oder Bildungseinrichtungen genauso wie finanzielle Ressourcen und soziale Sicherheit.
Riexinger: Um frei zu sein, müssen Menschen ihre Zukunft planen können – dafür braucht es neben einer Demokratie vor allem eine materielle Grundversorgung. Das wäre in der heutigen, wohlhabenden Gesellschaft ohne größere Probleme für alle möglich. Doch es fehlt an einer gerechten Verteilung. Dafür bedarf es Rahmenbedingungen, die den Schwächeren gleiche Chancen ermöglichen.
Strengmann-Kuhn: Der Wohlstand ist heute tatsächlich so groß, da müsste es möglich sein, für alle Menschen eine materielle Freiheitsgrundlage herzustellen.

Wäre das bedingungslose Grundeinkommen, also die Idee, allen ein garantiertes Einkommen zu gewähren, nicht eine gute Möglichkeit, eine solche Grundlage zu schaffen?
Riexinger: Die dahinterstehenden Gedanken sind richtig: Wir wollen nicht, dass Menschen ihre Arbeitskraft um jeden Preis verkaufen müssen. Wir wollen auch nicht, dass die Arbeitenden keine Verfügung über die Arbeit haben. Und wir wollen auf keinen Fall die unwürdigen Sanktionen von Hartz IV, die die Menschen unter das Existenzminimum drücken.
Strengmann-Kuhn: Die Möglichkeit von Sanktionen unter das Existenzminimum war ein Fehler, der korrigiert werden muss. Wenn man die Existenzsicherung als Grundrecht ernst nimmt, wäre es das Einfachste, jedem dieses Existenzminimum in Form eines bedingungslosen Grundeinkommens zuzugestehen.
Riexinger: Die Frage ist doch, welchen Weg zu gerechteren und freieren Verhältnissen man beschreiten kann. Und da gibt es bessere Möglichkeiten als das bedingungslose Grundeinkommen.

Welche denn?
Riexinger: Es müssen flächendeckend existenzsichernde Löhne ausgezahlt werden. Und auch eine deutliche Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich wäre durch den produktiven Fortschritt möglich. Wir könnten zudem eine existenzsichernde, aber bedarfsorientierte Mindestsicherung einführen …
Strengmann-Kuhn: … das funktioniert nicht. Bei Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich besteht die Gefahr von noch größerer Arbeitsverdichtung und bei Teilzeit reicht oft auch ein höherer Lohn nicht zur Existenzsicherung. Mit einem Grundeinkommen hingegen ist Erwerbstätigkeit immer existenzsichernd. Und materielle Anreize zu arbeiten wären automatisch da, weil nicht wie in den Mindestsicherungssystemen ein Großteil des zusätzlich verdienten Geldes wieder weggenommen wird. Es gibt noch ein weiteres Problem der bedürftigkeitsgeprüften Grundsicherung: Viele Leute rutschen durch dieses System durch, sei es aus Unwissenheit oder aus Scham.

Experten gehen davon aus, dass 40 Prozent der Bedürftigen in verdeckter Armut leben und keine oder zu wenige Leistungen in Anspruch nehmen. Herr Riexinger, ließe sich durch das bedingungslose Grundeinkommen die Stigmatisierung der Bedürftigen nicht verhindern?
Riexinger: Man kann auch eine Mindestsicherung einführen ohne den bürokratischen Aufwand – und ohne Sanktionen, denn die drangsalieren die Menschen und führen indirekt einen Arbeitszwang ein.
Strengmann-Kuhn: Wir kommen bei einer Grundsicherung nicht aus der Logik von Leistung und Gegenleistung heraus. Das schränkt die Freiheit ein und eine Bedürftigkeitsprüfung führt fast automatisch zu Stigmatisierung.

Aber ganz ohne Zwang, sozusagen in totaler Freiheit, würden viele Menschen da nicht aufhören zu arbeiten?
Strengmann-Kuhn: Die meisten Menschen wollen arbeiten, Arbeit gehört in unserer Gesellschaft zur Selbstverwirklichung und zur sozialen Teilhabe.
Riexinger: Arbeit konstituiert ja unser menschliches Leben …

… wenn Menschen also auch ohne Druck arbeiten, dann könnte man doch bedenkenlos ein Grundeinkommen einführen?
Riexinger: Ich gehe wie meine Parteikollegin Katja Kipping, die das Grundeinkommen befürwortet, davon aus, dass die allermeisten Menschen an gesellschaftlicher Arbeit teilnehmen wollen – wenn diese vernünftig ausgestaltet ist. Aber das ist mit einem Grundeinkommen nicht garantiert. Nur in einem System, in dem demokratisch festgelegt wird, was wie produziert wird und wie das Verhältnis zwischen Arbeit und Leben ausgestaltet ist, nur in solchen Verhältnissen können und wollen alle an gesellschaftlicher Arbeitsorganisation teilnehmen. Und nur so würden alle möglichst wenig Lohnarbeit machen müssen und wären freier.
Strengmann-Kuhn: Es ist ein häufiges Missverständnis, dass ein Grundeinkommen dazu dient, nicht zu arbeiten. Es geht nicht darum Faulheit, sondern Arbeit zu ermöglichen, aber selbst entscheiden zu können, was und wie man arbeitet. Und es geht um die Freiheit, auch mal weniger zu arbeiten oder sich auf Erziehungs- oder Ehrenamtsarbeit zu konzentrieren.

Trägt das Grundeinkommen so zu einer Stärkung der Verhandlungsposition von Arbeitnehmern bei?
Strengmann-Kuhn: Ja, die Gewerkschaften werden durch das Grundeinkommen gestärkt, weil die Menschen nicht mehr so leicht erpressbar sind und auch sagen können, für so wenig Lohn arbeite ich nicht …
Riexinger: … die meisten Gewerkschaften sehen das aber anders. Sie sagen: Wenn jemand schon 1000 Euro bekommt und nur noch 500 oder 800 Euro dazuverdienen muss, um das Gleiche zu haben wie jetzt, dann sinkt die Motivation, für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Das nutzt dann den Unternehmen.

Das Grundeinkommen als Kombilohn?
Strengmann-Kuhn: Um das zu verhindern, braucht es einen Mindestlohn …
Riexinger: … das reicht nicht. Man braucht eine sinnvolle Tarifpolitik, die höhere Löhne oder Arbeitszeitverkürzungen durchsetzt. Außerdem gibt es unterschiedlich produktive Sektoren, deswegen muss man neben der tariflichen auch eine gesellschaftliche Arbeitszeitpolitik machen.
Strengmann-Kuhn: Die Löhne für unangenehme Jobs würden durch ein Grundeinkommen aber steigen, weil sonst niemand mehr diese Jobs machen würde.
Riexinger: Für das Grundeinkommen müsste man aber extrem viel Geld umverteilen, nur damit alle dieses bekommen, also auch Millionäre.

Herr Strengmann-Kuhn, Millionäre bekommen ein Grundeinkommen. Ist das nicht absurd?
Strengmann-Kuhn: Zunächst hat jeder einen Anspruch auf dieses Grundrecht. Aber am Ende zahlen Gutverdiener und Reiche natürlich mehr Steuern als sie an Grundeinkommen erhalten, sonst wäre es ja nicht finanzierbar.
Riexinger: Wenn Erwachsene 1050 Euro und Kinder die Hälfte bekommen, das sind fortschrittlichere Konzepte, dann müsste man etwa 800 Milliarden Euro umverteilen – das ist mehr als die Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen zusammen. Wenn man zudem noch ein gutes Sozialsystem, eine angemessene Infrastruktur und kommunale Daseinsvorsorge haben will, dann wären wir bei einer Staatsquote von 70 bis 80 Prozent! Für eine bedarfsorientierte Mindestsicherung in gleicher Höhe müsste weit weniger Geld aufgebracht und umverteilt werden. Dafür könnten wir deutlich mehr Geld in gebührenfreie Erziehung, Bildung, Pflege und ÖPNV investieren sowie die öffentliche Infrastruktur ausbauen.
Strengmann-Kuhn: Das ist so nicht richtig. Das Grundeinkommen ersetzt Steuerfreibeträge und einen Teil der staatlichen Leistungen wie die Sozialhilfe oder das Kindergeld. Was man volkswirtschaftlich finanzieren muss, ist immer der Unterschied zwischen dem Bruttoeinkommen und dem, was die Menschen letztlich zur Verfügung haben. Da unterscheidet sich das Grundeinkommen nicht von einer Mindestsicherung. Man kann das auch sofort verrechnen. Für Besserverdiener wäre das Grundeinkommen dann nur noch eine Art Steuerfreibetrag und für Geringverdiener würde eine Unterstützung vom Finanzamt ausgezahlt. Das heißt dann negative Einkommenssteuer.
Riexinger: Gerade die negative Einkommenssteuer wird hauptsächlich von Neoliberalen vertreten. Ich sehe da eine große Gefahr: Jede gesellschaftliche Entwicklung muss hart erkämpft werden, es hat alleine 15 Jahre gedauert, bis der Mindestlohn eingeführt wurde. Der Kampf um ein echtes Grundeinkommen dürfte da fast aussichtslos sein – und am Ende womöglich dazu führen, dass dieses zu einem neoliberalen Projekt wird, das dazu benutzt wird, den Sozialstaat weiter zu schleifen.

Manch linker Grundeinkommensbefürworter verbindet damit auch die Hoffnung, den Kapitalismus zu überwinden.
Strengmann-Kuhn: Um den Kapitalismus zu überwinden, bräuchte es schon mehr.
Riexinger: Ein nichtkapitalistisches, sozialistisches System heißt, dass es eine gemeinschaftliche Verfügung über die Produktionsmittel und die gesellschaftliche Organisation gibt. Das würde ermöglichen, dass die Menschen tatsächlich gesellschaftlich bestimmen, wie lange sie arbeiten wollen und wie sie die Früchte ihrer Arbeit verteilen. Das geht nicht mit dem Grundeinkommen, das setzt ja, um sich zu finanzieren, weiterhin auf Lohnarbeit. Aber zumindest ermöglichen linke Grundeinkommensmodelle im Gegensatz zu neoliberalen, dass linke Befürworter und Gegner des Grundeinkommens gemeinsame Zwischenziele anstreben können wie eine Mindestsicherung ohne Sanktionen.

Herr Strengmann-Kuhn, Sie setzen sich seit Jahren auch im Bundestag für die Einführung eines Grundeinkommens ein. Wie realistisch ist das?
Strengmann-Kuhn: Es wird keinen großen Knall geben, dass ein Land plötzlich das Grundeinkommen einführt, schon gar kein großes und entwickeltes Land wie Deutschland. Eher wird ein Entwicklungs- oder Schwellenland, in dem es noch kein gewachsenes Sozialsystem gibt, ein Grundeinkommen einführen. Aber auch in Europa gibt es wieder stärkere Debatten, zum Beispiel in Finnland, da soll es ein Experiment zum Grundeinkommen geben, wobei die Bedingungen noch unklar sind. Für Deutschland ist es realistischer, wenn das Grundeinkommen schrittweise eingeführt wird, zum Beispiel in Höhe des Hartz-IV-Regelsatzes oder zuerst für bestimmte Gruppen wie Kinder, Rentner, Erwerbstätige oder auch für Selbstständige, denen es besonders nutzen würde. So könnte man zwar nicht alle mit dem Grundeinkommen verknüpften Freiheitsideale direkt verwirklichen, aber es würden schon mehr Möglichkeiten geschaffen, die auch zu mehr Innovationen und Kreativität führen.

Moderation: Timo Reuter