Am Dienstag, den 17.04.2018 erschien auf der Website von Der Freitag folgender Gastbeitrag von Wolfgang Strengmann-Kuhn, Sprecher für Arbeitsmarktpolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen:
Holt die Leute raus - Das Dilemma einer armutsfesten Grundsicherung
Das Leben ist ein buntes Potpourri verschiedenster Lebensentwürfe: Selbständige und Angestellte, mit und ohne Kinder, verheiratet oder nicht, alleinstehend oder mit anderen zusammen lebend, in der Stadt und auf dem Land. Sie sind alt, jung, gesund, krank, behindert, gut oder schlecht ausgebildet, sie sind hier geboren, zugewandert oder freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger*innen.
Aber eines haben sie gemeinsam: Sie alle haben das Recht auf eine menschenwürdige Existenzsicherung. Dies zu garantieren, ist Aufgabe des Staates. Es ist die Aufgabe der Politik. Das jetzige System der Grundsicherung wird dem nicht gerecht. Die Menschen sind nicht trotz Hartz IV, sondern wegen Hartz IV arm. Darüber hinaus wohnt dem bisherigen Konstrukt der Grundsicherung ein Dilemma inne, das nicht ohne weiteres aufgelöst werden kann.
Die Grundsicherung muss armutsfest und sanktionsfrei sein, denn jeder hat das Recht auf ein Leben in Würde und ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe. Dafür müssen die Regelsätze erhöht werden – und zwar deutlich. Dies hat allerdings zur Konsequenz, dass durch die Anhebung dieses Satzes plötzlich noch mehr Menschen in die Grundsicherung fallen. Aktuell sind dies fast acht Millionen. Erwerbstätige mit geringen Einkommen würden plötzlich zusätzlich zu sogenannten Aufstocker*innen. Dabei gibt es schon heute mehr Hartz IV-Beziehende, die erwerbstätig sind, als Langzeitarbeitslose. Wenn der Regelsatz erhöht wird – und das ist notwendig, damit die Grundsicherung vor Armut schützt – würde diese Zahl in die Höhe schnellen.
Für die betroffenen Menschen ist das keinesfalls wünschenswert, denn das bestehende „Hartz-IV-Regime“ stigmatisiert und konfrontiert die Menschen mit bürokratischem Wahnsinn und Strukturen der Bevormundung. Keiner wünscht sich diese Abhängigkeit für sich und seine Nächsten. Das Ergebnis wären also noch mehr Menschen in Hartz IV und noch mehr Erwerbstätige, die mit Hartz IV aufstocken müssen. Ziel muss aber sein, Menschen aus Hartz IV herauszuholen. Das gilt insbesondere für die Erwerbstätigen.
Die Antwort auf diese Forderung kann und darf nicht sein, den Regelsatz niedrig zu halten. Für die Menschen mit geringen Einkommen brauchen wir eine faire Lösung. Das muss jedoch passieren ohne es auf dem Rücken derer auszutragen, die nicht erwerbstätig sind. Das ist das Gebot der Stunde. Warum? Weil genau dieses Gegeneinander-Ausspielen dazu führt was alle Parteien laut eigener Aussagen verhindern wollen: Es spaltet die Gesellschaft, es schafft ein „drinnen“ und ein „draußen“. Diese Konsequenz wollen wir nicht hinnehmen.
Und ein weiteres Ziel ist wichtig: Arbeit soll sich lohnen. Niemand würde das bestreiten. Aber ausgerechnet für Erwerbstätige mit geringem Einkommen gilt das häufig nicht. Das liegt daran, dass bei Erwerbstätigen, die zusätzlich Sozialleistungen beziehen, das eigene Einkommen fast vollständig angerechnet wird. Wenn das geändert würde, und zusätzliche Erwerbsarbeit mehr belohnt wird, verstärkt sich aber das beschriebene Dilemma noch, denn noch mehr Erwerbstätige hätten Anspruch auf Sozialleistungen, das Ergebnis wären noch mehr Hartz IV-Aufstocker.
Die Antwort auf dieses Dilemma ist ein neues System von Garantieleistungen: Eine Garantierente, eine Kindergrundsicherung und ein Garantieeinkommen für Erwerbstätige, das Aufstocker aus Hartz IV herausholt und gleichzeitig dafür sorgt, dass Erwerbsarbeit besser belohnt wird. Erwerbstätige mit geringen Einkommen erhalten ohne Antrag vom Finanzamt einen finanziellen Zuschuss, der das Existenzminimum deckt. Zuschuss und Einkommen sorgen dafür, dass diese Menschen mehr erhalten, als wenn sie nicht arbeiten würden. Dies entspricht in weiten Teilen dem Gerechtigkeitsempfinden unserer Gesellschaft. Die Grundsicherung und die Jobcenter könnten sich dann auf diejenigen fokussieren, die nicht erwerbstätig sind.
Diese Grundsicherung müssen wir dringend verbessern. Sie muss einfach und unbürokratisch gestaltet sein, damit möglichst alle, die einen Anspruch haben, sie auch bekommen, die Sanktionen müssen abgeschafft werden, damit das Existenzminimum immer gesichert ist, und sie sollte so hoch sein, dass sie tatsächlich vor Armut schützt. So schaffen wir die Basis für ein freies und selbstbestimmtes Leben, in der Teilhabe garantiert wird. Das ist ein wichtiger Schritt hin zu einer Gesellschaft, die frei ist von (Existenz)-ängsten. Das brauchen wir dringender denn je, denn Angst ist zerstörerisch, lähmt und gefährdet unsere Demokratie. Wir wollen eine Gesellschaft, die noch bunter wird als sie heute schon ist – fangen wir an und lösen das Dilemma der Grundsicherung.
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