Die Bundesregierung hat mit der geplanten Reform das komplexe Hilfesystem nicht vereinfacht
Am 22.12.2015 erschien in der Frankfurter Rundschau dieser Gastbeitrag von Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn:
Die Grundsicherung in Deutschland ist ein regelrechter Dschungel. Ein aufgeblähtes System an Unübersichtlichkeiten und unterschiedlichsten Regeln erschweren den Zugang zur Existenzsicherung: da gibt es das Arbeitslosengeld II, das Sozialgeld, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, aber auch die Sozialhilfe und Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Das Leistungsrecht verteilt sich auf mehrere Gesetze und selbst gleiche Tatbestände sind unterschiedlich geregelt. Das macht es kompliziert, intransparent und errichtet hohe Hürden. Dadurch entstehen bei den Anspruchsberechtigten starke Vorbehalte und Unsicherheiten, notwendige Hilfeleistungen für sich und ihre Kinder in Anspruch zu nehmen. Verdeckte Armut und eine Beschädigung des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in den Sozialstaat sind die Folgen.
Stark belastet sind aber auch die Menschen, die diese überfrachteten Gesetze umsetzen oder die Leistungsberechtigten beraten sollen - sei es in den Jobcentern, an den Gerichten oder in den Beratungsstellen. Diese Arbeit bindet Ressourcen, die viel sinnvoller eingesetzt werden könnten. In den Jobcentern muss ein zu hoher Anteil an Personal für die Bearbeitung der Anträge eingesetzt werden. Stattdessen wäre es besser, wenn diese Ressourcen für die Arbeitsvermittlung und für soziale Unterstützung zur Verfügung stehen würden.
Eine Vereinfachung bei der Grundsicherung ist also dringend geboten. Sie muss weniger kompliziert, leichter verständlich und verwaltungsärmer werden. Eine Vereinfachung ist jedoch kein Selbstzweck, sondern sie muss, um zu gelingen, auf folgende Ziele ausgerichtet werden:
- Das Grundrecht auf Existenzsicherung muss einfacher und zuverlässiger wahrgenommen werden können und es muss verständlicher werden, auf welche Leistungen man in welcher Situation Anspruch hat.
- Die Jobcenter müssen von unnötiger Bürokratie befreit werden, damit mehr Ressourcen für die Sicherung des Existenzminimums und für die Unterstützung der Leistungsberechtigten eingesetzt werden können.
Für eine Vereinfachung der Grundsicherung muss an drei Punkten angesetzt werden:
Erstens muss das gesamte System der Grundsicherungsleistungen in den Blick genommen werden. Eine Fokussierung alleine auf das Arbeitslosengeld II reicht nicht aus. Insbesondere zwischen den Hartz IV-Leistungen und den Leistungen im Sozialgesetzbuch XII (Grundsicherung für Ältere und bei Erwerbsminderung sowie Sozialhilfe) gibt es viele Unterschiede, die sachlich nicht begründet sind. Das macht das System unnötig kompliziert. Zweitens müssen die vielen Sonderregeln und Ausnahmen und sogar Ausnahmen von Ausnahmen eingehend darauf geprüft werden, ob sie sinnvoll und zielführend sind. Drittens sollte die Einkommensanrechnung und Bedarfsberechnung daraufhin geprüft werden, wann bei der Anspruchsprüfung Bagatellgrenzen eingeführt bzw. bei den Leistungen und Rückerstattungen Pauschalen zu Grunde gelegt werden können. Dabei muss zwischen Bedarfsgerechtigkeit einerseits und der Entlastung der Verwaltung andererseits abgewogen werden. Es ist jedoch nicht nachvollziehbar, warum immer dann auf Pauschalen oder Bagatellgrenzen verzichtet wird, wenn dies die Leistungsberechtigten besser stellen würde.
Der derzeit geplante Gesetzentwurf der Bundesregierung zur so genannten „Rechtsvereinfachung“ wird den oben formulierten Zielen für eine echte Vereinfachung der Grundsicherung in keiner Weise gerecht. Die Reform wird die Grundsicherung weder gerechter noch transparenter machen. Und auch die Entlastung der Jobcenter von unnötiger Bürokratie greift viel zu kurz. Die geplante Reform verfolgt kein erkennbares Konzept. Sie gleicht einem Bauchwarenladen mit unterschiedlichsten Zutaten. Dieses Potpourri enthält zwar auch Maßnahmen, die tatsächlich zu einer Verwaltungsvereinfachung führen. Oftmals gehen diese jedoch mit Leistungseinschränkungen einher. Viele der geplanten Änderungen sind zudem keine Rechtsvereinfachungen, sondern Rechtsverschärfungen. Vor allem werden notwendige und für die Betroffenen sinnvolle Vereinfachungen gar nicht angegangen.
Notwendig wären eine grundlegende Reform der Sanktionen, durch die sichergestellt wird, dass der Grundbedarf nicht antastet wird, und bis dahin ein Sanktionsmoratorium. Die Bundesregierung schafft es jedoch nicht einmal, die Punkte umzusetzen, die in Wissenschaft, Praxis und Politik – mit Ausnahme der CSU – Konsens sind: Alle Expertinnen und Experten sind sich darin einig, dass sowohl die verschärften Sanktionen für Unter-25-Jährige als auch Sanktionen, die die Kosten der Unterkunft betreffen für die Betroffenen äußerst problematisch und zudem verwaltungsaufwändig sind. Notwendig wäre überdies eine Reform des Bildungs- und Teilhabepakets. Denn auch dieses gestaltet sich äußerst bürokratisch und verhindert dadurch oftmals, dass Leistungen in Anspruch genommen werden. Überfällig sind auch einfachere und gerechtere Regeln bei den Kosten der Unterkunft. Streitfälle zu diesem Punkt machen einen großen Teil der rechtlichen Auseinandersetzungen aus. Und notwendig sind Schritte in Richtung einer Individualisierung des Leistungsrechts und damit die Abkehr von den so genannten Bedarfsgemeinschaften.
Die Bundesregierung hat mit der geplanten Reform eine große Chance vertan, um einer einfacheren und gleichzeitig gerechteren Grundsicherung näher zu kommen.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Sprecher für Sozialpolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen
Der Beitrag erschien am 23.12.2015 in der Frankfurter Rundschau:
www.fr-online.de/gastbeitraege/gastbeitrag-gerechte-grundsicherung,29976308,32980232.html