Gastbeitrag | 26.08.2014

Zuwanderung aus andern EU-Ländern: Brücken statt Mauern

von Wolfgang Strengmann-Kuhn und Annalena Baerbock

Der Europawahlkampf ist vorbei und die Kommunalwahl in Bayern auch. Eigentlich gute Voraussetzungen dafür, die Debatte über Zuwanderung aus EU-Staaten endlich zu versachlichen und sich wieder auf die Fakten zu besinnen.

Zunächst einmal ist festzuhalten: Deutschland profitiert von der Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern innerhalb der EU. Hunderttausende von Deutschen leben und arbeiten im europäischen Ausland. Ebenso kommen viele, überwiegend junge und überdurchschnittlich gut ausgebildete, Menschen nach Deutschland, um hier zu arbeiten, und sie zahlen Beiträge in die Sozialversicherungssysteme und Steuern. Durch die Aufnahme weiterer Mitgliedstaaten und die Erweiterung der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf diese Länder ist eine messbare "Freizügigkeitsdividende" entstanden, wie aktuelle Studien belegen.

Gleichzeitig ist richtig, dass Zuwanderung in einigen Kommunen zu Problemen führt, weil sich die Neuankömmlinge in einigen Großstädten wie Offenbach und Frankfurt konzentrieren. Es kommen auch Menschen, die nicht so gut ausgebildet sind, und Menschen, die vor Armut und Diskriminierung geflüchtet sind. Diese brauchen unsere Unterstützung, damit sie sich in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft integrieren können. Die betroffenen Kommunen leisten dabei vorbildliche Arbeit, es entstehen allerdings Kosten, die sie nicht alleine schultern können. Auf diese Herausforderungen hat der Städtetag vor gut einem Jahr in einem Papier hingewiesen und damit die Debatte ins Rollen gebracht.

Sozialbetrug oder auch nur übermäßiger Bezug von Sozialleistungen gehört ausdrücklich nicht zu den zentralen Problemen. Im Gegenteil: Ohne soziale Unterstützung dauert der Integrationsprozess länger und es entstehen weitere soziale Folgeprobleme: auf dem Arbeitsmarkt oder durch unzumutbare Wohnbedingungen. Das betont auch der Deutsche Städtetag immer wieder.

Unabhängig davon bedarf es einer Klarstellung der rechtlichen Regelungen, was den Bezug von Sozialleistungen in Deutschland betrifft. Im deutschen Grundsicherungssystem sind verschiedene Ausschlussgründe vorgesehen, die regeln sollen, wann Unionsbürger Zugang zur Grundsicherung für Arbeitssuchende ("Hartz IV") und zur Sozialhilfe haben und wann nicht. Das Ganze ist so kompliziert, dass nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch Jobcenter, Beratungsstellen und deren Mitarbeiter, häufig nicht verstehen, ob nun ein Anspruch vorliegt oder nicht. Kein Wunder also, dass es regelmäßig zu Klagen vor den Sozialgerichten kommt, die aufgrund der unpräzisen Regelungen ebenfalls unterschiedlich entscheiden. Die deutschen Gerichte lassen derzeit drei Fälle beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) untersuchen, damit dieser klarstellt, ob die deutschen Regeln europäischem Recht entsprechen. Im Kern geht es darum, ob Deutschland arbeitssuchende Menschen von der Grundsicherung für Arbeitssuchende ausschließen darf - was, zu Recht, wie ein Widerspruch in sich selbst erscheint.

Um eines klarzustellen: Das Problem sind weder die EU noch das europäische Recht. Letzteres legt lediglich grundsätzliche Rahmenbedingungen fest, über die Details kann jeder Mitgliedsstaat selbst entscheiden. Das Problem ist jedoch, dass der deutsche Gesetzgeber im Sozialgesetzbuch sehr nah an die definierten Grenzen geht oder diese sogar überschreitet. So heißt es im Sozialgesetzbuch II, dass "Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt" vom Bezug von Arbeitslosengeld II ausgeschlossen sind. Die europäischen Vorgaben lassen jedoch Pauschalausschlüsse von Arbeitslosenleistungen nicht zu, sondern erfordern Einzelfallprüfungen, wie jüngst der EuGH unterstrich. Und er wies darauf hin, dass Unionsbürger nicht von Maßnahmen ausgeschlossen werden dürfen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen.

Dies ergibt sich unmittelbar aus dem Freizügigkeitsrecht, dessen Aufgabe es ist, die Mobilität zu fördern. Die Freizügigkeit ist aber nicht nur für Waren, Kapital und Dienstleistungen da, sondern gerade auch für die Menschen. Damit stellt das Recht auf Freizügigkeit einen Eckpfeiler der EU dar, den man nicht so einfach aberkennen kann. Dies verkennt offenbar die Bundesregierung, denn sie plant jetzt neue Mauern zu errichten: Wer nach sechs Monaten keine Arbeitsstelle gefunden hat, soll sein Aufenthaltsrecht verlieren.

Stattdessen wäre es wichtig, für die Menschen, die zu uns kommen, Brücken in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft zu bauen. Sozialpolitisch wie europapolitisch sollte daher die unpräzise und rechtlich fragwürdige Ausschlussregelung von Grundsicherungsleistungen einfach gestrichen werden. Befürchtungen, dass dann jeder herkäme und sofort Hartz IV bekäme, sind völlig fehl am Platz. Denn die übrigen Voraussetzungen gelten weiterhin, das heißt, Hilfesuchende müssen ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben - davon ist im Regelfall nach einem Aufenthalt von mindestens drei Monaten auszugehen - sowie bereit sein, eine Arbeit aufzunehmen.

Für uns Grüne ist klar: Sozialpolitik ist der Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält. Daher hat sie eine zentrale Rolle in einem weiter zusammenwachsenden Europa.

Wolfgang Strengmann-Kuhn ist sozialpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis'90/Die Grünen und zusammen mit Annalena Baerbock Mitglied im Europaausschuss.

Als Gastbeitrag erschienen in der Frankfurter Rundschau am 26.8. http://www.fr-online.de/meinung/gastbeitrag-bruecken-statt-mauern,1472602,28219958.html