Gastbeitrag | 18.09.2014

Wer über Freiheit redet, darf über Armut nicht schweigen

Portrait von Wolfgang Strengmann-Kuhn. Mit freundlicher Erlaubnis von Stefan Kaminski, Fotograf
Portrait von Wolfgang Strengmann-Kuhn. Mit freundlicher Erlaubnis von Stefan Kaminski, Fotograf

Hartz IV ist das Gegenteil von Freiheit. Wir brauchen einen neuen Ansatz: eine Grundsicherung, die ohne Zwang auskommt. Ein Gastbeitrag von Wolfgang Strengmann-Kuhn, sozialpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen.

Je länger wir Grünen nur abstrakt über den Freiheitsbegriff reden, desto mehr besteht die Gefahr, dass er blutleer wird. Wenn ich für mehr Freiheit streite, geht es mir nicht um philosophische Debatten, sondern darum ganz konkret unfreie Menschen freier zu machen.

Wer über Freiheit redet, darf über Armut nicht schweigen. Hartz IV ist das Gegenteil von Freiheit. Die Menschen werden gegängelt und sie erhalten nicht mal das, was ihnen zusteht. Wir brauchen hier einen ganz neuen Ansatz: eine Grundsicherung, die ohne Zwang auskommt. Ein Grundrecht auf Unterstützung statt Almosen für Hartz-IVler. Das ist eine Vorbedingung für die Freiheit nicht nur der Ärmeren, sondern für die Freiheit aller. Solange man sich nicht auf das unterste soziale Netz verlassen kann, sind alle im Hamsterrad des Wettbewerbs von allen gegen alle gefangen. Daraus müssen wir ausbrechen. Das ist für mich ein zentraler Bestandteil des grünen Freiheitsverständnisses, den ich bei vielen Beiträgen zur grünen Freiheitsdebatte vermisse. So wichtig zum Beispiel digitale Bürgerrechte sind: ich bin nicht frei, so lange nicht gesichert ist, dass ich genug zum Leben habe. Existenzängste machen unfrei: Angst essen Seele auf. Dazu hat auch Hartz IV beigetragen. Je größer das Risiko ist, ohne ausreichende Absicherung arbeitslos zu werden, desto größer ist die Abhängigkeit von dem jeweiligen Arbeitgeber. Hier müssen wir Druck aus dem Kessel nehmen.
Der permanente Zwang zur Selbstoptimierung muss aufhören. Es geht nur noch um die eigene Karriere und das persönliche Vorankommen. Und wenn es nicht klappt, ist man selber schuld. Das ist der Geist der Unfreiheit, der unserer Gesellschaft immer stärker gefangen nimmt. Der Blick über den Tellerrand wird immer unwahrscheinlicher. Das Interesse am Gemeinschaftlichen fällt hinten runter.

Auch unsere Körper werden immer mehr Ziel des immer besser. Je jünger, hübscher, dünner, gesünder, desto freier? Sicher nicht. Ja, ich esse auch gerne ungesund. Na und? Freiheit bedeutet das Recht „Nein“ zu sagen. Nein zur permanenten Selbstoptimierung, zum Schönheitswahn, zu den Jobangeboten der Jobcenter, zur Ökonomisierung des Lebens und zum Wettbewerb.

Verantwortung wurde zur Fußfessel

Die Menschen brauchen mehr Zeit: Mehr Zeit für sich, mehr Zeit für Kreativität und mehr Zeit, um sich in die Gesellschaft einzumischen. Zeit, um sich wehren zu können, wenn Dörfer den Braunkohlebaggern weichen sollen, Menschen wegen Fluglärm nicht schlafen können oder innerstädtische Grünflächen bebaut werden sollen. Demokratie lebt vom Mitmachen. Demokratie ist Selbstbestimmung. Dafür müssen Freiräume und Möglichkeiten geschaffen werden.

Freiheit bedeutet, dass die Menschen auch mal über den Tellerrand schauen können, sich eine Auszeit nehmen oder weniger arbeiten können. Dafür brauchen wir neue Instrumente, die das unabhängig vom Einkommen ermöglichen, sowohl für die Managerin wie für die Reinigungskraft. Gerade Eltern – Mütter und Väter – sind immer mehr zwischen Familienarbeit und Erwerbsarbeit hin- und hergerissen. Eltern brauchen mehr Zeit für ihre Kinder und gleichzeitig sind für viele die Löhne so niedrig, dass beide Partner vollzeitnah oder sogar Vollzeit arbeiten müssen. Wir quetschen derzeit die mittlere Generation aus wie eine Zitrone. Häufig wird das Ziel einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf gleichgesetzt mit dem Ziel einer höheren Erwerbsbeteiligung der Eltern. Das kann nicht aufgehen und das hat mit Wahlfreiheit ganz bestimmt nichts zu tun. Für wirkliche Freiheit brauchen wir einen anderen Familienlastenausgleich und eine bessere finanzielle Unterstützung für Eltern und deren Kinder.

Der grüne Freiheitsbegriff ist nicht zu verstehen, ohne den grünen Verantwortungsbegriff. Gerade uns Grünen ist die Verantwortung für die zukünftigen Generationen, für die Umwelt und für die Gesellschaft wichtig. Oftmals wurde die Verantwortung bei uns Grünen jedoch zu einer Fußfessel für diejenigen, die eh schon unfrei sind. So kann ich doch nicht von jemandem mit einem kleinen Einkommen verlangen, dass er nur von Biolebensmitteln lebt. Da braucht es auch bei vielen von uns Grünen noch ein Umdenken.

Die Reichen sind ohnehin schon frei. Wir können viel über die sogenannte kalte Progression und Steuerbelastungen für „die“ Mittelschicht reden. Es sind jedoch die Sozialabgaben und nicht die Steuern, die Menschen mit geringen und mittleren Einkommen belasten. Um für diese Menschen die Belastungen zu verringern und Freiheitsspielräume zu erhöhen, müssen Besserverdienende und Vermögende mehr zur Finanzierung der öffentlichen Leistungen beitragen. Wer anderes behauptet, irrt. Freiheit und Umverteilung sind kein Widerspruch, denn auch die Freiheit ist ungleich verteilt. Es gibt Menschen, die heute schon die Freiheit haben, sich ein Ferienhaus zu kaufen oder in die Südsee zu reisen. Diese Menschen meine ich nicht, wenn ich für Freiheit streite. Wer wirklich für Freiheit streitet, muss sich auch und vor allem um die Belange der Menschen kümmern, die arm sind und nur wenige Möglichkeiten haben. Denn das macht uns alle freier.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn ist sozialpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen.

An diesem Freitag veranstaltet die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen in Berlin einen Freiheitskongress. Im Zentrum des Kongresses stehen die Bedrohung der Freiheit durch Überwachung und das Verhältnis von Ökologie und individueller Freiheit.

Artikel URL: http://www.fr-online.de/meinung/gastbeitrag-wer-ueber-freiheit-redet–darf-ueber-armut-nicht-schweigen,1472602,28450284.html

Der Beitrag ist zuerst am 18.10.2014 auf der Homepage der Frankfurter Rundschau erschienen.