Deutscher Bundestag, 22.09.2016
Tagesordnungspunkt 11: Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE "Jedes Kind ist gleich viel wert - Aktionsplan gegen Kinderarmut" Drucksache: 18/9668
Protokoll der Rede von Wolfgang Strengmann-Kuhn, Sprecher für Sozialpolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen:
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Eckenbach, an zwei Stellen muss ich Ihnen recht geben. Erstens. Wir haben in der Tat eine gute Konjunktur, und ich will gerne hinzufügen: Wir haben ein Rekordmaß an Beschäftigung, und wir haben eine supergute demografische Entwicklung, weil die ganzen Babyboomer wie ich jetzt alle beschäftigt und am Schaffen sind. Gerade deswegen ist der zweite Punkt, den Sie genannt haben und in dem ich Ihnen zustimme, umso schlimmer. Es ist beschämend, welches Maß an Kinderarmut es bei uns gibt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Sie aber haben den Kopf in den Sand gesteckt und über alles Mögliche geredet. Sie haben über die Eltern und die Bundesländer geschimpft.
(Jutta Eckenbach (CDU/CSU): Ich habe überhaupt keinen beschimpft! Das habe ich nicht, Herr Strengmann-Kuhn!)
Sie haben aber nicht über die bundespolitische Verantwortung geredet. Armut misst sich in erster Linie am Einkommen. Das Statistische Bundesamt hat gerade heute die neuesten Zahlen vorgelegt. Daran sieht man, welchen Erfolg die Bundesregierung bisher gehabt hat. 2010 lag die Armutsquote bei Kindern noch bei 18,2 Prozent, 2012 bei 18,7 Prozent, 2014 bei 19 Prozent und 2015 bei 19,7 Prozent. Die Armut nimmt zu, und das ist die Folge Ihrer Nichtpolitik gegen Armut.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
19,7 Prozent klingen abstrakt. Das sind in absoluten Zahlen mehr als 2,5 Millionen Kinder, genauer gesagt 2 530 000 und damit fast jedes fünfte Kind in Deutschland, und sie haben nicht alle solche Eltern, wie Sie sie gerade beschrieben haben. Bei ihnen müssen wir darauf achten, dass sie eine vernünftige Grundsicherung bekommen, damit wir die Armut in Deutschland tatsächlich beseitigen. Da reicht es nicht, sich wegzuducken, wie es die Bundesregierung bei Armutsfragen immer macht.
Wie die Bundesregierung mit Kindern und Armutsbekämpfung umgeht, sieht man an den aktuellen Berechnungsvorschlägen der Bundesregierung zum Kinderregelsatz. Sie haben von sozialer Teilhabe der Kinder geredet und davon, wie wichtig diese sei. In dem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung gestern verabschiedet hat, werden die Ausgaben von einkommensschwachen Familien betrachtet, und daraus wird der Regelsatz berechnet. Was die Bundesregierung macht, ist, aus diesen Ausgaben alle möglichen Dinge herauszurechnen, die Kinder, die im Hartz-IV-Bezug sind, angeblich nicht brauchen. Dazu gehören Zimmerpflanzen, Haustiere, der Weihnachtsbaum, Campinggeräte, weil sie ja angeblich keinen Urlaub machen müssen, Malstifte für die Freizeit - so viel zum Thema Bildung -; auch Handykosten werden nicht angerechnet. Sie gönnen den Kindern nicht einmal ein Speiseeis im Sommer oder eine Portion Pommes zusammen mit Freundinnen und Freunden an der Imbissbude. Sie gefährden soziale Teilhabe von Kindern, anstatt die soziale Teilhabe zu stärken. Das wäre das, was eigentlich nötig ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Dadurch entsteht nämlich das, was Sie, Frau Eckenbach, gerade erwähnt haben: Vererbung von Kinderarmut. Das ist ein soziologischer Begriff. Vererbung von Kinderarmut hat nichts mit Genetik oder so etwas zu tun. Wenn Kinder nicht an der Gesellschaft teilhaben können, wenn sie ausgegrenzt werden, dann führt das zur Vererbung von Armut. Ihre Politik führt dazu, dass Kinderarmut vererbt wird, nicht die Armut der Eltern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Wir hätten die Möglichkeit, daran etwas zu ändern. Dazu muss man an zwei Punkten ansetzen. Wir haben einerseits die Eltern, deren Existenzminimum gedeckt werden muss, und wir haben andererseits die Kinder, deren Existenzminimum gedeckt werden muss. Bei den Eltern müssen wir beim Arbeitsmarkt ansetzen. Wir müssen schauen, dass die Kinderbetreuung so organisiert ist, dass die Eltern auch arbeiten können.
(Jutta Eckenbach (CDU/CSU): Machen wir doch!)
Wir müssen einen sozialen Arbeitsmarkt einrichten, damit die arbeitslosen Eltern auch arbeiten können. Aber die meisten Eltern von armen Kindern sind erwerbstätig. Auch daran müssen wir denken. Wir müssen schauen, dass deren Existenz gesichert ist. Auch da macht die Bundesregierung nichts. Ich finde, dass es wichtig ist, dass neben dem Mindestlohn weitere Maßnahmen ergriffen werden, um das Existenzminimum von Erwerbstätigen zu sichern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Darüber hinaus müssen wir endlich die Familienförderung ändern. Wir geben unglaublich viel für Familien in Deutschland aus. Aber wir fokussieren auf die Ehe, anstatt die vielen Leistungen, die es für die Eheförderung gibt, endlich auf das Kind in Form einer Kindergrundsicherung zu konzentrieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Die Kindergrundsicherung muss so ausgestaltet sein, dass sie einerseits das Existenzminimum der Kinder deckt, und zwar nicht so, dass die Eltern zum Jobcenter müssen, sondern so, dass das Existenzminimum tatsächlich abgedeckt wird, unbürokratisch, am besten zusammen mit dem Kindergeld. Der zweite Punkt ist: Wir müssen die Kinderförderung endlich so ausgestalten, dass uns jedes Kind gleich viel wert ist. Unsere Kinder bekommen mehr vom Staat als Normalverdiener. Auch das ist eine Ungerechtigkeit, die wir beseitigen müssen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Meine Redezeit ist um. Ich könnte noch viel über Infrastrukturleistungen reden. Das Bildungs- und Teilhabepaket, das Sie erwähnt haben, kommt bei den Kindern nicht an.
(Jutta Eckenbach (CDU/CSU): Weil die Eltern die Anträge nicht ausfüllen, Herr Strengmann-Kuhn!)
Da müssen wir mehr in die Bildungsinfrastruktur vor Ort investieren, und wir müssen die Finanzierung sicherstellen. Das ist das, was wir als Bund tun könnten. Wir könnten Kinderarmut drastisch verringern oder sogar beseitigen, wenn der politische Wille dazu da wäre. Der ist bei Ihnen leider nicht vorhanden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)