Rede | 27.01.2016

"Wir haben eine Situation, in der der soziale Zusammenhalt in Deutschland tatsächlich bedroht ist."

Rede am 27.01.2016 zur Aktuellen Stunde um 16:05-17:15 Uhr zum Therma "Haltung der Bundesregierung zu aktuellen Armuts- und Reichtumsstudien"

Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich habe das Gefühl, dass vielen Rednerinnen und Rednern, gerade von der Großen Koalition, die Brisanz der Lage nicht wirklich klar ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Wir haben eine Situation, in der der soziale Zusammenhalt in Deutschland tatsächlich bedroht ist. Gerade heute gab es in der FAZ eine Umfrage von Allensbach zu lesen, nach der die Menschen Existenzängste haben, und diese Existenzängste drücken sich in fehlender Wahlbeteiligung aus, drücken sich auch aus in 13 Prozent für die AfD; so gestern in der Umfrage von INSA nachzulesen. Die Menschen haben Angst, und der soziale Zusammenhalt ist bedroht. Dagegen müssen wir gemeinsam etwas tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Es wird immer viel über die Zahlen gestritten. Aber eindeutig ist: Die Armut in Deutschland ist viel zu hoch. Es sind 15 Prozent der Menschen in Deutschland von Armut betroffen. Das kann man über die Grundsicherung berechnen; das kann man über Armutsquoten berechnen. Das ist die Größenordnung, und es sind definitiv zu viele: 12 Millionen Menschen. Wenn man sich die Zahlen anguckt, stellt man fest: Daran hat auch die gute ökonomische Situation nichts geändert. Die Arbeitslosenzahlen gehen runter, aber die Armutsquote bleibt mindestens konstant. Ein Ergebnis ist, dass wir zunehmend mehr erwerbstätige Arme in Deutschland haben, und das ist ein Skandal, den wir dringend bekämpfen müssen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Es kann nicht sein, dass Menschen, die den ganzen Tag arbeiten, nicht viel mehr haben als Leute, die weniger arbeiten. 

(Kerstin Griese (SPD): Mindestlohn!)  - Jetzt kommt der Mindestlohn als Antwort. (Kerstin Griese (SPD): Wer hat denn den Mindestlohn eingeführt?) Ich bin jemand, der mindestens 20 Jahre für den Mindestlohn gestritten hat. (Kerstin Griese (SPD): Da ist der Mindestlohn ein guter Schritt! Ist doch gut so!) Der Mindestlohn war eine gute Sache, eine der wenigen guten Sachen, die die Große Koalition gemacht hat.  (Kerstin Griese (SPD): Eine der vielen Sachen!)

Aber was das Thema Armut angeht, hat der Mindestlohn fast keine Wirkung. Es gibt jetzt die ersten Zahlen zu den Aufstockern; die haben wir im Ausschuss behandelt. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Erwerbstätigen, die aufstocken, ist sogar gestiegen. Das heißt, trotz Mindestlohn haben wir einen Anstieg von Armut bei Erwerbsarbeit. Das war für mich als jemand, der darüber seine Doktorarbeit geschrieben hat, auch nicht überraschend, weil die Ursachen von Armut trotz Erwerbstätigkeit vielfältig sind. Es sind nicht nur die Löhne - das ist ein Grund -; ein wesentlicher Grund ist, dass Erwerbstätige Kinder haben, und im Hinblick darauf nützt auch der Mindestlohn nichts. Das heißt, an dieser Stelle müssen wir ansetzen, dass Familien mit Kindern in Deutschland nicht mehr von Armut bedroht sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Das heißt, wir müssen definitiv noch einmal das Thema Kindergrundsicherung angehen. Die Kollegin Kerstin Andreae hat schon gesagt: Wir müssen dahin kommen, dass uns wirklich jedes Kind gleich viel wert ist. - Das ist ein wesentlicher Punkt. Wir haben, was den sozialen Zusammenhalt angeht, auch ein Problem am oberen Teil der Einkommens- oder Wohlfahrtsverteilung. Wir haben eine wachsende Gruppe von Vermögenden, die von der Gesellschaft abgespalten ist und ihrer solidarischen Verpflichtung nicht mehr nachkommt.

(Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE): So ist es!) 
Es sind viele Statistiken genannt worden. Der Kollege Linnemann hat die EVS angesprochen. Dazu muss ich als Statistiker sagen: Da fehlen die ganz Reichen. Es gibt da eine Abschneidegrenze; die liegt bei einem Einkommen von 18 000 Euro im Monat. Das ist nicht wenig Geld. Die wirklich Reichen sind nicht in dieser Statistik. Wenn man sich nicht nur Piketty anguckt, sondern auch seine Mitstreiter Anthony Atkinson und andere stellt man fest, dass Einkommen und Vermögen der oberen 1 Prozent - die sind gar nicht in der EVS - ganz stark gestiegen sind, auch in Deutschland.

(Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Piketty hat es am Steueraufkommen festgemacht! - Heike Hänsel (DIE LINKE): Europaweit!)

- Es ist europaweit gestiegen, aber in Deutschland besonders stark. In der Euro-Zone ist die Vermögensverteilung in Deutschland am ungleichsten. Auch das müssen wir angehen. Wir müssen wieder mehr Vermögensgleichheit hinkriegen. Aus sozialen Gründen, aber auch aus ökonomischen Gründen müssen wir darangehen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Vermögensverteilung ist nicht nur in Deutschland und in Europa oder in der Euro-Zone ein Problem, sondern auch weltweit. Die Zahlen von Oxfam sind genannt worden. Man kann sich über die Methode streiten, aber deutlich ist, dass die Zahl der Menschen, die so viel Vermögen haben wie die untere Hälfte auf der Welt, sogar sinkt. Auch an dieser Stelle ist zu sagen: Der Reichtum der einen ist die Armut der anderen. Ganz deutlich muss man sagen: Wenn wir nicht an den Reichtum dieser Vermögenden herangehen, werden wir die großen globalen Probleme - das geht von globaler Armut bis hin zum Klimawandel oder zur Klimakatastrophe - nicht bewältigen. Auch das sind Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Das müssen wir unbedingt zusammendenken. Nur wenn wir das anpacken, kriegen wir es auch hin, insgesamt in der Welt und in Europa und in Deutschland den sozialen Zusammenhalt wieder herzustellen. Da müssen wir alle gemeinsam ran. Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)