Rede | 15.12.2016

Keine Ausreden mehr: Kinderarmut endlich reduzieren

Rede vom 15.12.2016, 209. Sitzung des Deutschen Bundestages zur ersten Beratung  des Antrags der Fraktion DIE LINKE "Kinder und Familien von Armut befreien - Aktionsplan gegen Kinderarmut" Drs. 18/10628.

 

 

Redeprotokoll

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Yüksel hat gerade gesagt: Wir dürfen kein Kind in Deutschland zurücklassen. - Das ist sehr richtig, aber wir lassen Kinder in Deutschland zurück, und das nicht nur in Einzelfällen, sondern in ganz vielen Fällen. Man muss es so deutlich sagen: Das ist ein Skandal. Wir müssen die Verringerung der Kinderarmut in Deutschland endlich als oberste Priorität unserer Arbeit benennen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Werfen wir einen Blick auf die Zahlen. Fast 2 Millionen Kinder beziehen Hartz-IV-Leistungen, und diese Zahl ist weitgehend konstant, trotz guter ökonomischer Situation. Bei der aktuellen Regelsatzberechnung hat die Bundesregierung übrigens die Ausgaben für Weihnachtsbaum und Adventsschmuck herausgenommen. Auch durch so etwas lassen wir Kinder zurück.

2,5 Millionen Kinder in Deutschland leben unter der Armutsgrenze, wobei hier der gesamte Haushalt, also auch das Einkommen der Eltern, berücksichtigt werden muss. Die Aussagekraft dieser Zahl ist eben infrage gestellt worden, und sie ist als rein statistische Größe bezeichnet worden. Ich würde im Gegensatz dazu sogar noch weitergehen: Wenn man sich die Armutsgrenze genau betrachtet, sieht man, dass Kinderarmut unterschätzt wird. Für einen alleinstehenden Erwachsenen liegt die Armutsgrenze - das ist eben schon gesagt worden - bei 1 033 Euro, für ein Kind bei 310 Euro. Das sächliche Existenzminimum liegt in Deutschland ab dem 1. Januar 2017 bei 393 Euro. Armut von Kindern wird, wenn die EU-Definition von Armut herangezogen wird, unterschätzt. Wahrscheinlich - auch das muss man deutlich sagen - sind sogar mehr als die 2,5 Millionen Kinder von Armut betroffen. Kinderarmut ist in Deutschland ein Skandal, und so muss man das benennen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Heute geht es vor allen Dingen um den Antrag der Linken. Wenn man den Antrag der Linken mit dem Antrag der Grünen, über den wir in der letzten Sitzungswoche debattiert haben, vergleicht, kann man die unterschiedlichen Ansätze von Linken und Grünen sehr gut erkennen. Die Linken nehmen das jetzige System der Familienförderung, nehmen einfach eine Schippe mit ganz viel Geld und schütten noch mehr Geld rein. Wir gucken uns das System genau an. In Deutschland wird ja viel Geld für Familienleistungen ausgegeben.

(Michaela Noll (CDU/CSU): Das erkennt ihr wenigstens an! Das ist ja schon mal was!)

Wir gucken, wie man das Geld effektiver, sinnvoller, effizienter einsetzen kann, um Kinderarmut zu beseitigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dabei muss man in erster Linie das Ehegattensplitting in den Blick nehmen. Das taucht in dem Antrag der Linken interessanterweise überhaupt nicht auf. Wir geben viel Geld für das Ehegattensplitting aus. Damit werden einerseits Familien gefördert, andererseits aber auch viele Paare, die keine Kinder haben. Umgekehrt werden Familien, die eine Förderung nötig hätten, nicht gefördert, weil die Eltern nicht verheiratet sind oder weil es sich um Alleinerziehende handelt. Deswegen sagen wir als Grüne: Wir müssen umsteuern, von der Förderung der Ehe hin zur Förderung der Kinder.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen fordern wir eine einheitliche, eine einkommensunabhängige Leistung, die endlich Schluss macht mit der Ungerechtigkeit - das hat meine Kollegin Katja Dörner auch schon angesprochen -, dass wir als Bundestagsabgeordnete mehr herausbekommen als ein Normalverdiener. Wir brauchen eine einheitliche Leistung, die mindestens so hoch ist wie die Steuerersparnis, die uns gewährt wird. Am besten wäre es, wenn sie so hoch wie der höchste Regelsatz für Kinder wäre. Das wäre eine Basis.

Das verknüpfen wir, wie gesagt, mit der Reform des Ehegattensplittings. Wir wollen, dass neu verheiratete Paare diese Kindergrundsicherung erhalten und die Partner individuell besteuert werden, das Ehegattensplitting also nicht mehr zur Anwendung kommt. Paare, die bereits verheiratet sind und das Ehegattensplitting nutzen, sollten in das neue System wechseln können. Uns ist wichtig, dass mit dieser Reform Familien nicht schlechtergestellt werden, sondern möglichst alle Familien bessergestellt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der zweite Punkt im Antrag der Linken, der mich erstaunt hat, betrifft die Reform des Kinderzuschlags. Der Kinderzuschlag ist ein unglaublich bürokratisches Monstrum. Er sorgt für sehr viel Bürokratie, und das Geld kommt nicht bei den Kindern an. Doch was sagen die Linken dazu? Die Linken wollen ihn massiv ausweiten. Der Kinderzuschlag soll bis zu 300 Euro betragen. Dadurch würde der bürokratische Aufwand noch sehr viel größer. Das würde massenhaft Geld kosten, aber das Geld würde nicht unbedingt bei den Kindern, die es am nötigsten brauchen, ankommen. Das ist nicht der Weg, den wir Grüne gehen wollen. Der Kinderzuschlag gehört grundlegend reformiert. Eigentlich gehört er in der Form, in der er jetzt besteht, abgeschafft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Sönke Rix (SPD): Er ist im Übrigen durch die Grünen mit eingeführt worden!)

- Er ist von den Grünen mit eingeführt worden; das ist richtig. Die Grundidee ist ja eigentlich nicht schlecht;

(Sönke Rix (SPD): Aha!)

aber so, wie er gemacht worden ist - das muss man im Nachhinein sagen -, funktioniert er nicht.

(Sönke Rix (SPD): Nicht alles gleich abschaffen, sondern verbessern!)

Deswegen schlagen wir einen einkommensabhängigen  Zuschlag für alle Kinder vor, damit das sächliche Existenzminimum für alle unbürokratisch garantiert wird. Wir wollen nicht den bürokratischen Kinderzuschlag, sondern entweder einen einkommensabhängigen Zuschlag zum Kindergeld oder - in dem neuen System - einen einkommensabhängigen Zuschlag zur Kindergrundsicherung. So können wir gewährleisten, dass die Leistungen dort ankommen, wo sie gebraucht werden. So kann endlich das Existenzminimum aller Kinder in Deutschland garantiert werden.

Wenn der politische Wille dafür da wäre, könnten wir Kinderarmut drastisch reduzieren, vielleicht sogar beseitigen. Das muss doch Aufgabe für uns alle sein. Ich fordere insbesondere die SPD und die Union auf, endlich etwas dafür zu tun. Vorschläge von den Linken und von uns liegen vor. Die Vorschläge der Linken sehen wir als teilweise problematisch an; aber von Ihnen kommt überhaupt nichts.

Die Bekämpfung der Kinderarmut sollte oberste Priorität haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir können das, und wir sollten das endlich tun. Keine Ausreden mehr!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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