01.12.2016
206. Sitzung des Deutschen Bundestages
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch
Drucksache 18/10211
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Drucksache 18/10518
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 18/10533
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben ja heute schon über das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums debattiert. In der am Montag durchgeführten Anhörung sind erhebliche Zweifel geäußert worden, ob dieser Gesetzentwurf diesem Grundrecht entspricht, und zwar vonseiten der Diakonie, des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, des Deutschen Gewerkschaftsbundes,
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Alles hervorragende Juristen!)
in den Expertisen des Deutschen Anwaltsvereins, vonseiten der Neuen Richtervereinigung. Auch die von Ihnen eben genannten Experten sagten, dass das hart an der Grenze sei und man das auch anders beurteilen könne. Zumindest wurden Zweifel geäußert – ganz besonders von Herrn Dollinger, aber auch von Herrn Groth, der sagte: Das geht zumindest an die Grenze dessen, was verfassungsmäßig möglich ist. – Es gab am Montag einen einzigen Sachverständigen, der sagte: Die Härtefallregelung reicht, damit es verfassungskonform ist.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)
Eigentlich hätten Sie den Gesetzentwurf nach der Expertenanhörung am Montag zurückziehen müssen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums war auch die Ursache des schon angesprochenen Urteils des Bundessozialgerichts. Die Lösung, die dort gefunden wurde, finden wir auch problematisch, weil das Bundessozialgericht gesagt hat, dass die Menschen Leistungen nach dem SGB XII bekommen müssten. Erwerbsfähige gehören dort erstens nicht hin, und die Kommunen müssten es zweitens bezahlen. Auch das haben wir kritisiert und finden es falsch. Was an Ihrem Gesetzentwurf neben dieser verfassungsrechtlichen Frage auch problematisch ist: Er löst überhaupt kein Problem. Was ein Ausschluss von Sozialleistungen bedeutet, kann man vor Ort beobachten, zum Beispiel bei mir zu Hause in Frankfurt oder in Offenbach, aber auch, wenn man in den Tiergarten – nicht weit von hier – geht. Am Mittwoch, glaube ich, beschrieb Die Welt die dortigen Zustände in einem Artikel. Die Menschen leben unter menschenunwürdigen Umständen, wenn sie keine Sozialleistungen bekommen. Es droht Ausbeutung. Von irgendetwas müssen die Menschen leben – nach Ihrer Vorstellung ja fünf Jahre lang –, ehe sie Sozialleistungen beziehen können. Die Folgen kann man vor Ort beobachten: Schwarzarbeit, Prostitution, kriminelle Aktivitäten sind die Folge, und das Ganze schürt Ausländerfeindlichkeit und führt zu sozialen Problemen, die letztlich die Kommunen ausbaden müssen. Deswegen ist der Gesetzentwurf auch für die Kommunen maximal eine Scheinlösung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Wir haben heute noch einen Entschließungsantrag vorgelegt, in dem wir eine Alternative darstellen, die rechtssicher ist, den sozialen Maßstäben genügt und auch europapolitisch das richtige Signal sendet. Wir sagen nämlich, dass wir die Menschen, die nach Deutschland kommen, die aktiv nach Arbeit suchen, die eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben – Kollegin Zimmermann hat schon gesagt, dass gerade die Bulgaren und Rumänen eine sehr hohe Erwerbstätigenquote haben, sehr fleißig sind –, unterstützen müssen. Sie brauchen Unterstützung bei den aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen. Und nach drei Monaten bedarf es auch einer finanzieller Unterstützung – sonst funktioniert die Integration in den Arbeitsmarkt nicht –, damit die Menschen, die aktiv nach Arbeit suchen, eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie brauchen unsere Unterstützung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sie schaffen damit neue Anreizsysteme!)
Umgekehrt sagen wir – gerade kam der Zwischenruf „Anreizsysteme“ –, dass wir Menschen, die keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, die nicht aktiv nach Arbeit suchen – in dem Fall würde eigentlich auch das Freizügigkeitsrecht entfallen –, die Leistung auch verweigern können. Auch das muss man der Wahrheit halber dazusagen, um deutlich zu machen: Das Recht auf Freizügigkeit ist für Menschen gedacht, die aktiv nach Arbeit suchen, die eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Gleichzeitig muss man auf europäischer Ebene viel mehr machen, als die Bundesregierung tut. Die Ziele, die Frau Kramme eben nannte, teilen wir, aber die praktische Politik der Bundesregierung geht nicht oder zumindest viel zu wenig in diese Richtung. Wir brauchen kein Gesetz, das verfassungsrechtlich problematisch ist, die Integration erschwert, sozialpolitische Probleme nicht löst, sondern sogar welche schafft und europapolitisch das falsche Signal sendet. Deswegen werden wir den Gesetzentwurf ablehnen. Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Pressemitteilungen und Gastbeiträge
Presse-Statement zur Anhörung am 28.11.2016
Der Kabinettbeschluss des Gesetzentwurfs wird mit viel Kritik begleitet- Pressemitteilung vom 12.10.2016
Schließlich wird im April 2016 ein Referentenentwurf des Ministerium für Arbeit und Soziales vorgelegt - Presse-Echo vom 28.04.2016
Gastbeitrag vom 01.02.2016 "Freizügigkeit braucht soziale Sicherheit"
Gastbeitrag vom 18.12.2016"Grundsicherung - eine notwendige Voraussetzung für Integration"
Im Laufe des Jahres 2015 folgen Gerichtsurteile des EUGH und des BSG - Pressemitteilung vom 15.09.2016 und Pressemitteilung vom 04.12.2015
Von Seiten der Bundesregierung geschieht lange nichts. Am 26.08.2014 erscheint ein Gastbeitrag von Wolfgang Strengmann-Kuhn und Annalena Baerbock.
Im Jahr 2014 wurde ein Staatssekretärsausschuss gebildet, der in seinem Abschlussbericht Zahlen, Fakten und rechtliche Regelungen zusammenfasste und erste Vorschläge zur Veränderung der Rechtslage machte. - Pressemitteilung vom 25.03.2014