Deutscher Bundestag, 01.10.2015; Tagesordnungspunkt 11: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)
zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE.
Armuts- und Reichtumsbericht qualifizieren und Armut bekämpfen
Drucksachen 18/5109, 18/6218
(TOP 11, 00:30 Stunden)
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mehrheit der Sachverständigen in der Anhörung hat sich für grundlegende Reformen der Sanktionen ausgesprochen,
(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): So ist es!)
und zwar vonseiten der Wissenschaft, vom IAB, vom ISG und insbesondere von den beiden christlichen Wohlfahrtsverbänden Diakonie und Caritas.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Sie sollten wirklich einmal über das C in Ihrem Parteinamen nachdenken.
(Volker Kauder (CDU/CSU): Dafür brauchen wir Sie nicht!)
Frau Schmidt, in der heutigen Debatte geht es auch nicht um eine kleine Teilgruppe, sondern um die grundsätzliche Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Da hat sich bei der Rede von Frau Eckenbach und noch deutlicher bei dem Zuruf vorhin gezeigt, dass sich unsere Vorstellung von Gesellschaft fundamental von Ihrer Vorstellung unterscheidet.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Unsere Vorstellung von Gesellschaft ist: Niemand soll ausgegrenzt werden. Wir wollen selbstbestimmte Teilhabe für alle.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Letztlich geht es um Freiheit, und zwar um Freiheit für alle. Voraussetzung für eine selbstbestimmte Teilhabe für alle ist eine Grundsicherung ohne Existenzängste und ohne soziale Ausgrenzung.
(Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Das ist Freiheit ohne Verantwortung!)
Um es deutlich zu sagen: Hartz IV ist nicht die emanzipatorische Grundsicherung, wie wir sie uns vorstellen, und muss deswegen grundlegend geändert und die Bestrafungslogik der heutigen Sanktionen muss überwunden werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Die Hartz-IV-Sanktionen sind häufig demütigend, unnötig und kontraproduktiv. Deswegen fordern wir ein Sanktionsmoratorium, also die sofortige Aussetzung aller Sanktionen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN ‑ Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Mit welchem Ziel denn?)
Im Fall von Ralph Boes, der oben auf der Zuschauertribüne sitzt, kann das sogar Menschenleben retten. Auch das sollte Ihnen vielleicht nicht ganz egal sein.
Nach einer Aussetzung der Sanktionen brauchen wir eine grundlegende, systematische Evaluation ‑ eine solche gibt es bislang nicht ‑, aber auch eine ehrliche Debatte darüber, ob Sanktionen nötig sind und, wenn ja, wie Sanktionen ausgestaltet sein sollen. Zentral ist, wie gesagt, dass wir aus der Bestrafungslogik herauskommen und dass das Existenzminimum immer sichergestellt ist. Ich darf noch einmal daran erinnern, dass es das Bundesverfassungsgericht war ‑ so viel zum Thema Regeln, Frau Eckenbach ‑,
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
das gesagt hat, dass aus dem Grundgesetz ein Grundrecht und Menschenrecht auf Existenzsicherung folgt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Eine Kürzung des Existenzminimums ist also eigentlich nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Deswegen begrüße ich es sehr, dass die Sozialgerichte Gotha und Dresden diese Frage an das Bundesverfassungsgericht weitergegeben haben. Ich bin gespannt, wie das Urteil ausgeht und ob das Bundesverfassungsgericht die Sanktionen ganz untersagt oder zumindest eine Grenze setzt. Meine persönliche Meinung ist ja: Das Grundrecht auf Existenzsicherung ist am einfachsten und besten dadurch sichergestellt, dass das Minimum einfach an alle als Grundeinkommen ausgezahlt wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN ‑ Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Auch an Millionäre?)
- Auch an Millionäre.
(Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Danke!)
Innerhalb des Systems der Grundsicherung halte ich aber eine Abschaffung der Sanktionen für schwierig. Sanktionen sollten im jetzigen System aber auf Ausnahmefälle beschränkt sein. Wir Grüne fordern deshalb in unserem Antrag eine grundlegende Reform. Es muss ein Wunsch- und Wahlrecht für die Arbeitslosen geben. Sanktionen dürfen nicht verhängt werden, wenn Fähigkeiten, Wünschen und Vorschlägen der Einzelnen nicht Rechnung getragen wird. Es dürfen keine Sanktionen verhängt werden, wenn die Aufnahme von Arbeit verweigert wird, die unterhalb des tariflichen oder örtlichen Entgelts entlohnt wird. Die heutigen Sanktionsregeln sind zu starr. Wir finden: Es darf keinen Automatismus mehr geben, und Sanktionen müssen bei einer Verhaltensänderung zurückgenommen werden können. Wichtig ist: Wenn sanktioniert wird, dann dürfen höchstens 10 Prozent des Regelsatzes gekürzt werden, damit der Grundbedarf immer gesichert ist.
Das Mindeste aber ist, dass erstens keine Sanktionen bei den Kosten der Unterkunft mehr stattfinden. Zweitens. Die verschärften Sanktionen gegen unter 25-Jährige sind erwiesenermaßen ‑ das haben alle Experten in der Ausschussanhörung gesagt ‑ unsinnig und kontraproduktiv. Sie gehören abgeschafft.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Bei diesen beiden zuletzt genannten Punkten sind sich tatsächlich fast alle einig. Alle Experten, die SPD und fast alle Länder ‑ bis auf eines ‑ sind sich da einig. Nur die CSU blockiert hier ‑ mal wieder. Ich frage mich manchmal: Nach Betreuungsgeld, Maut, Griechenland-Hilfe, Flüchtlingsabschreckung, Hofierung von Viktor Orban, Blockade bei der Reform von Hartz IV ‑ wann schmeißen CDU und SPD endlich die CSU aus der Großen Koalition raus?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Ich finde, Seehofer hat lange genug genervt.
Die CSU blockiert damit aber nicht nur eine Reform der Sanktionen. Seit zwei Jahren verspricht die Bundesregierung ein Gesetz zur Vereinfachung der passiven Leistungen, also der Geldleistungen bei Hartz IV. Auch wenn wir nicht alle der bisher bekannt gewordenen Vorschläge unterstützen und sinnvoll finden: Eine Vereinfachung ist dringend erforderlich. Die Jobcenter warten darauf.
Wir wollen eine Vereinfachung der Grundsicherung, die dafür sorgt, dass sich die Jobcenter endlich auf das konzentrieren können, wofür sie eigentlich da sind, nämlich die Vermittlung in Arbeit, und wir wollen eine Grundsicherung, die das Existenzminimum für alle sichert.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)