Rede | 10.09.2015

Rede zum Sozialetat

 

Rede anlässlich der Debatte zum Einzelplan 11 im Rahmen der Haushaltsberatungen im Deutschen Bundestag am 10.09.2015:

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu Beginn auf einen Vorschlag aus dem Koalitionspaket vom vergangenen Wochenende hinweisen, über den auch schon vor der Sommerpause diskutiert worden ist, nämlich die Umwandlung von Geldeistungen in Sachleistungen und die Kürzungen von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Dazu habe ich noch einmal in das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012 geschaut. Dort heißt es:
Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ... Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. … Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Der Gesetzgeber darf … bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht … nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. 
Er darf es nicht. 
… Daher erlaubt es die Verfassung nicht, das in Deutschland zu einem menschenwürdigen Leben Notwendige unter Hinweis auf das Existenzniveau des Herkunftslandes von Hilfebedürftigen oder auf das Existenzniveau in anderen Ländern niedriger als nach den hiesigen Lebensverhältnissen geboten festzulegen.
Der Gesetzgeber darf das nicht. Das sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Wenn Sie jetzt mit dem Argument, Flüchtlinge abzuschrecken, die Geld- in Sachleistungen umwandeln, verstößt das also nicht nur gegen das Grundgesetz, sondern es ist aus meiner Sicht auch ein ziemlich bekloppter Vorschlag.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Wenn man sich genau anschaut, wofür diese Leistungen sind, dann sieht man, dass es sich um Leistungen handelt, die auf dem Markt eingekauft werden, um es Flüchtlingen zu ermöglichen, eine Sport- oder Kulturveranstaltung zu besuchen. Zum Existenzminimum gehört auch soziale und kulturelle Teilhabe. Sie verlangen nicht mehr und nicht weniger, als dass jetzt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Erstaufnahmeeinrichtungen, die wirklich alle Hände voll zu tun haben, jetzt auch noch Gutscheine für Sportveranstaltungen, für Kulturveranstaltungen, für Drogerieartikel und Ähnliches verteilen müssen. Es ist sowohl für die Betroffenen einfacher als auch für die Beschäftigten, wenn man denen tatsächlich Geldleistungen gibt. Das ist ein riesiger bürokratischer Aufwand.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Es schränkt die Freiheit und Selbstbestimmung der Asylbewerber unzumutbar ein, und es ist völlig diskriminierend.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Statt die Leistungen für Flüchtlinge noch weiter zu kürzen, fordern wir Sie auf, das Asylbewerberleistungsgesetz endlich abzuschaffen, 
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
und das aus einem weiteren wichtigen Grund. Die völlig unwürdige und unzureichende Gesundheitsversorgung wäre dann beendet. Gleichzeitig würden die Kommunen sofort und dauerhaft um mehrere 100 Millionen Euro entlastet. 
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Wir brauchen keine Abschreckungslogik, sondern wir brauchen endlich eine echte Willkommenskultur. Die Bevölkerung hat das am vergangenen Wochenende gezeigt.
(Kai Whittaker (CDU/CSU): Sie wollen einen Blankoscheck!)
In dem Haushaltsetat geht es nicht nur um Flüchtlinge, sondern auch um vieles andere mehr. Die gute Situation sollte eigentlich genutzt werden, um Strukturreformen für die Zukunft anzugehen. Ein Beispiel ist das Grundsicherungssystem, das grundlegend renoviert gehört. Es müsste vereinfacht und transparenter gestaltet werden. Sicherungslücken müssten endlich geschlossen werden. Dazu machen Sie bisher nichts. Das Ziel muss sein, dass jeder Mensch in Deutschland eine Grundsicherung hat, die das Existenzminimum sichert. Das Bundesverfassungsgericht - ich habe es eben zitiert - sagt, das ist ein Grund- und Menschenrecht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Nun soll der Regelsatz um satte 5 Euro angehoben werden. Das reicht nicht.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)
Wir fordern Sie auf, bei der Neuberechnung endlich die Rechentricks zu unterlassen und den Regelsatz anzuheben. Bis der Regelsatz neu berechnet ist, fordern wir eine Anhebung auf mindestens 420 Euro.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Seit über einem Jahr versprechen Sie ein Gesetz zur Rechtsvereinfachung der Hartz-IV-Regelleistungen. Die Menschen in den Jobcentern, sowohl die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch die Betroffenen, warten tatsächlich auf Vereinfachungen. Das ist unendlich kompliziert. Legen Sie endlich einen Gesetzentwurf vor, damit wir wenigstens über die Vorschläge hier diskutieren können!

Man hört, es hängt vor allen Dingen an den Sanktionen und - einmal wieder - an der Verbohrtheit der CSU. 
(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Wieso wundert mich das nicht?)
Das Mindeste wäre, dass man die scharfen Sanktionen für unter 25-Jährige abschafft, die nach Meinung aller Expertinnen und Experten völlig kontraproduktiv sind. 
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir müssen auch die Sanktionierung bei den Kosten der Unterkunft abschaffen, damit die Leute ihre Miete bezahlen können, ihnen nicht gekündigt wird und sie auf der Straße stehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass die unwürdigen 100-Prozent-Sanktionen endlich abgeschafft werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Die Kollegin Kipping hat völlig recht: Ralph Boes hat jetzt zwei Monate gehungert, weil er vom Jobcenter keine Geldleistungen mehr bekommt. Das widerspricht der Verfassung. Diese Sanktionen müssen sofort aufgehoben werden. Es geht da um ein Menschenleben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Wir fordern, die Sanktionen insgesamt auszusetzen und das Sanktionsregime gründlich zu überarbeiten. Wir fordern: Sanktionsmoratorium jetzt! Aber Reformen des Sozialgesetzbuches II alleine reichen nicht aus. Wir haben sechs Grundsicherungsleistungen in vier Gesetzen. Das müsste dringend vereinfacht und vereinheitlicht werden. Auch dazu wäre ein Schritt in die richtige Richtung die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Damit würden Sie gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: eine Vereinfachung und gleichzeitig eine bessere Versorgung von Flüchtlingen. Gehen Sie also wenigstens diesen Schritt, und schaffen Sie das Asylbewerberleistungsgesetz endlich ab! Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)