Rede | 13.11.2015

Für uns Grüne ist die Grundsicherung kein Almosen, sondern ein Grundrecht

Die Rede von Wolfgang Strengmann-Kuhn, dem Sprecher für Sozialpolitik der Bundestagfraktion Bündnis 90/Die Grünen, im Deutschen Bundestag am 12.11.2015 zum Antrag der LINKEN "Für ein menschenwürdiges Existenz- und Teilhabeminimum":

Wolfgang Strengmann-Kuhn:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Voßbeck-Kayser, ich rate Ihnen: Schauen Sie sich die Armutsstatistiken, unter anderem die des Statistischen Bundesamtes, die gerade neu erschienen ist, an. Armut ist in Deutschland ein Problem, und davor dürfen wir nicht die Augen verschließen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Für uns Grüne ist die Grundsicherung kein Almosen, sondern ein Grundrecht. Mittlerweile haben wir da auch das Bundesverfassungsgericht auf unserer Seite, das in den letzten Jahren in mehreren Urteilen betont hat, dass ein Grundrecht und Menschenrecht auf Existenzsicherung aus dem Grundgesetz folgt. Es ist jetzt an der Politik, dieses Grundrecht auch umzusetzen.

So müssen wir erstens dafür sorgen, dass die Grundsicherung für alle gleich hoch ist. Unter anderem deswegen wollen wir das Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ein kleiner Nebeneffekt davon wäre, dass die Länder und Kommunen dadurch deutlich entlastet werden. 

Zweitens. Es ist notwendig, die immer noch bestehenden Lücken im Grundsicherungsnetz zu schließen. Es geht nicht an, dass Menschen vom Recht auf Grundsicherung ausgeschlossen werden.

Drittens müssen die Sanktionen so reformiert werden, dass der Grundbedarf immer gesichert ist.

Und viertens muss in der Tat das Grundsicherungsniveau angehoben werden. Dass der Regelsatz der Grundsicherung zu niedrig ist, das sieht man schon allein daran, dass es in Deutschland zahlreiche Tafeln gibt, die Lebensmittel an Bedürftige verteilen. Das ist ein Armutszeugnis! Ziel muss es sein, dass die Tafeln überflüssig werden und alle Menschen ein Recht auf eine Grundsicherung erhalten, die existenzsichernd ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wie sollen wir nun das Existenzminimum bestimmen? Die Linken schlagen vor, eine Kommission einzurichten nach dem Motto „Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründe ich einen Arbeitskreis“, und diese Kommission soll einen Warenkorb vorschlagen. Das ist äußerst problematisch. Ein Warenkorb ist enorm kompliziert und manipulationsanfällig,

(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Mindestlohnkommission gibt es auch!)

und Verhandlungen darüber, ob es zur sozialen Teilhabe gehört, dass ein Mensch alle vier Wochen oder nur einmal im Jahr ins Kino gehen kann, bringen uns nicht weiter.

Das Warenkorbverfahren wurde Anfang der 90er-Jahre abgeschafft - und das war gut so -, und wurde durch ein Statistikmodell ersetzt. Ziel des Statistikmodells war es, ein transparentes Berechnungsverfahren zu erhalten, das nicht manipuliert werden kann. Aber wenn wir ehrlich sind: Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Denn auch beim bestehenden Statistikmodell wurde im Ministerium so lange herumgerechnet, bis eine vorher festgelegte Zahl herauskam. Das Hauptziel des Statistikmodells, nämlich dass die Berechnung des Existenzminimums nicht politisch manipuliert werden sollte, ist nach wie vor nicht erreicht. Das müssen wir ändern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Dafür gibt es mehrere Alternativen.

Eine Möglichkeit wäre - das wird in dem vorliegenden Antrag der Linken auch angedeutet -, einfach die Armutsdefinition zu nehmen, auf die wir uns auf EU-Ebene geeinigt haben. Es spricht einiges dafür, aber es gibt auch einige Nachteile. Unter anderem würde sich dadurch die Leistung für Kinder reduzieren, und das ist durchaus problematisch.

Wenn wir bei der Berechnung anhand des Ausgabeverhaltens von Vergleichsgruppen bleiben, müssten einige Punkte geändert werden:

Erstens. Die Referenzgruppe muss eine sein, in der keine Menschen enthalten sind, die selbst Leistungen beziehen oder einen Anspruch auf Leistungen haben könnten, so wie das jetzt der Fall ist, weil es sonst zu Zirkelschlüssen kommt. Alles andere macht methodisch keinen Sinn.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Zweitens. Bisher ist es so, dass bei den einzelnen Ausgabeposten jeweils unterschiedliche Abschläge gemacht werden, die teils völlig willkürlich sind. Dadurch wird der Manipulation Tür und Tor geöffnet und dafür gesorgt, dass kaum jemand durchschaut, was da warum und wie berechnet wurde. Sinnvoll wäre es, einen einheitlichen Abschlag auf die Ausgaben zu machen, der vorher festgelegt wird; denn damit könnten nachträgliche Manipulationen verhindert werden.

All das sind normative Entscheidungen, die uns Abgeordnete niemand abnehmen kann. Eine objektive Bestimmung des Existenzminimums gibt es nicht; das kann ich Ihnen als Armutsforscher sagen. Da hilft auch nicht die Gründung einer Kommission weiter, wie es die Linke vorschlägt. Das müssen wir als Bundestag schon selber machen. Das verlangt auch das Bundesverfassungsgericht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Beim Mindestlohn habt ihr das anders gesehen!)

Wichtig ist, dass wir dabei ein Verfahren finden, das so einfach und transparent ist, dass es auch jeder und jede normale Abgeordnete versteht, damit wir hier eine politische Debatte darüber führen können. Und es ist wichtig, dass wir als Bundestag im Vorhinein die Methode festlegen

(Katja Kipping (DIE LINKE): Genau!)

und dann das Statistische Bundesamt den Regelsatz ausrechnet. Was es nicht mehr geben darf, ist, dass das Existenzminimum im Nachhinein durch diverse Rechentricks kleingerechnet wird, wie das bei allen bisherigen Berechnungen passiert ist. Das müssen wir in Zukunft ausschließen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)