Protokoll der Rede:
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Weiler, Sie haben angekündigt, dass Sie Argumente gegen den Antrag der Linken vorbringen wollen. Ich habe kein einziges Argument gehört.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Bernhard Kaster (CDU/CSU): Waren Sie draußen?)
Stattdessen wird ein Menschen- und Gesellschaftsbild verbreitet, das eigentlich weder zu unserem Grundgesetz noch zum gesellschaftlichen Konsens passt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Wir haben an dieser Stelle vor zwei Wochen einen Festakt aus Anlass des 65. Jahrestages der Verkündung des Grundgesetzes mit einer großartigen Rede von Navid Kermani erlebt.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Artikel 1 des Grundgesetzes beginnt mit den Worten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das Bundesverfassungsgericht leitet aus Artikel 1 und aus Artikel 20 des Grundgesetzes ein Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums ab. Ich finde, dieses Grundrecht müssen wir rechtfertigen, verteidigen und den Menschen tatsächlich gewähren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Aber die Frage der Sanktionen ist nicht nur eine rechtliche Frage. Es geht darum: In welcher Gesellschaft wollen wir tatsächlich leben? Wir Grüne wollen in einer Gesellschaft leben, die inklusiv ist, in der niemand ausgegrenzt wird und in der jeder Mensch ein Recht auf selbstbestimmte gesellschaftliche Teilhabe hat. An diesen Maßstäben – Grundrecht auf Existenzminimum und eine gesellschaftliche Realität, die allen selbstbestimmte Teilhabe ermöglicht – messen wir auch die Sanktionen. Wenn wir uns die derzeitige Sanktionspraxis angucken, stellen wir fest, dass die Sanktionen zurzeit diesen Maßstäben nicht genügen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Die meisten Sanktionen sind in der Tat demütigend, sie sind häufig unnötig, und sie sind meist auch kontraproduktiv. Deswegen sagen wir: Wir brauchen ein Sanktionsmoratorium, währenddessen die Sanktionen ausgesetzt werden und wir die Zeit nutzen, um die Sanktionsregeln so zu ändern, dass sie den Maßstäben des Grundgesetzes genügen, aber auch den Maßstäben einer inklusiven Gesellschaft, indem gewährleistet wird, dass Menschen nicht ausgrenzt werden und Teilhabe gefördert wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
An der Stelle eine kleine Anmerkung zu den Vorstellungen der Linken. Ich glaube, man muss auch darüber nachdenken, ob die sofortige Abschaffung aller Sanktionen diesem Anspruch tatsächlich gerecht wird oder ob nicht die komplette Abschaffung der Sanktionen auch dazu führen kann – wohlgemerkt: unter den derzeitigen Bedingungen -, dass Menschen von gesellschaftlicher Teilhabe und aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Ich stelle das einmal als eine Frage in den Raum, über die man intensiv nachdenken müsste.
(Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Guter Gedanke!)
Was heißt das, wenn wir sagen: „Menschen müssen in die Gesellschaft hereingeholt werden, dürfen nicht ausgegrenzt werden“? Das heißt, wir müssen Barrieren abbauen, wir müssen Hürden abbauen, wir müssen Mauern einreißen, und wir müssen Türen aufschließen, die verhindern, dass Menschen in die Gesellschaft hineinkommen. Die derzeitige Sanktionspraxis schafft das nicht. Zwei Beispiele:
Totalsanktion. Dass Menschen eine Leistung komplett verweigert wird, das geht unseres Erachtens nicht. Meines Erachtens ist das auch nicht mit dem vom Verfassungsgericht festgestellten Grundrecht auf Gewährung eines Existenzminimums vereinbar. Dass Menschen gar nichts bekommen, das geht so nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Wir hatten dazu schon Anhörungen im Ausschuss; da ist dieser Punkt von allen Experten kritisiert worden, auch von den Verfassungsrechtlern. Wir haben jetzt die Bundesregierung einmal gefragt, wie viele Fälle das eigentlich sind. Es sind 9 000 Fälle. Da kann man sagen: Das sind nicht viele. Aber: 9 000 Menschen, denen das Existenzminimum tatsächlich verweigert wird – das müssen wir dringend ändern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Von diesen 9 000 Menschen sind 5 000 Menschen unter 25 Jahre. Wir finden, gerade bei jungen Menschen muss man darauf achten und ihnen dabei helfen, dass sie in die Gesellschaft hineinkommen.
(Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Richtig! Genau so! Ja!)
Zweitens. Wir haben besonders scharfe Sanktionsregeln für die unter 25-Jährigen. Das ist von der letzten Großen Koalition eingeführt worden. Auch das wurde von allen Verfassungsrechtlern als problematisch bezeichnet. Insbesondere Altersdiskriminierung ist da ein rechtliches Problem. Diese schärferen Sanktionsregeln für unter 25-Jährige gehören also abgeschafft.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Schließlich ist es wichtig, noch einmal die Bedeutung einer Grundsicherung für die Gesellschaft insgesamt zu betonen. Für uns als Freiheitspartei
(Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Liberale Seite! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
ist es wichtig, dass die Selbstbestimmung der Menschen gewährleistet wird. Zur Selbstbestimmung gehört eine verlässliche Grundsicherung als Existenzsicherung in allen Lebenslagen unmittelbar dazu. Eine stabile Grundsicherung ist die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)