Rede | 08.05.2014

Rede im Bundestag zum Tagesordnungspunkt Soziales Europa

 

Protokoll der Rede:

 

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die gerade vom Kollegen Helfrich gehaltene Rede stand eher unter dem Motto „Ein Betriebswirt liest Verwaltungsvorschriften vor“, als dass eine soziale Vision von Europa darin erkennbar gewesen wäre.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Die ist aber dringend notwendig.

Sie haben etwas vernachlässigt. Natürlich ist es so, dass Sozialleistungen erwirtschaftet werden müssen. Umgekehrt ist es aber auch so, dass Sozialpolitik und damit soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherung überhaupt eine Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung ist, die dazu führt, dass überhaupt genügend da ist, damit finanziert werden kann. Das ist eine typische Errungenschaft der sozialen Marktwirtschaft. Sie haben das völlig vernachlässigt. Das muss aber im Sinne der Vision eines sozialen Europas unbedingt mitgedacht werden.

Solch eine Vision auch konkrete Schritte dahin sind unbedingt notwendig; denn wir brauchen ein starkes Europa. Das sieht man jetzt bei der Ukraine-Krise, bei der es wichtig ist, dass Europa mit einer Stimme redet. Man sieht das bei vielen globalen Problemen, die wir haben: beim Klimawandel, bei der Frage der globalen Gerechtigkeit und bei der Frage der Demokratie in der Welt. Wer, wenn nicht Europa, soll denn da in der Welt Vorbild sein? Das geht nur, wenn wir ein zusammenwachsendes und ein solidarisches Europa haben, damit es da mit einer Stimme sprechen und gemeinsam Vorbild sein kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Realität ist aber eine ganz andere. Wir erleben, dass die Zustimmung zur EU europaweit sinkt. In den Krisenländern sinkt sie aufgrund der beschriebenen Situation. Da stimme ich der Kollegin Zimmermann, was die Beschreibung der Situation anbelangt, zu. Es gibt massiv hohe Arbeitslosigkeit insbesondere bei der Jugend. In Griechenland gibt es steigende Säuglingssterblichkeit und teilweise verheerende gesundheitliche Situationen. Das ist eine Folge der Krisenpolitik, wie sie insbesondere die CDU-geführte Regierung in den letzten Jahren immer wieder eingefordert hat. Das bringt uns überhaupt nicht weiter.

(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Die Grünen haben zugestimmt!)

- Wir haben dem zugestimmt, Herr Kollege, weil wir gesagt haben: Wir müssen den Ländern helfen. Auch das gehört zu einem solidarischen Europa. Denn die Alternative, nicht zu helfen, wäre sogar noch schlechter gewesen als die jetzige Situation. Das hätte sie völlig in den Ruin getrieben.
Mit den Hilfspaketen wurde Zeit gekauft. Diese Zeit ist nicht genutzt worden. Wir hätten sie dringend notwendig gehabt, um eine Krisenpolitik zu fahren, die mehr soziale Gerechtigkeit schafft und auch die Reichen mit in die Pflicht nimmt. So wäre ein Schuh daraus geworden. Dagegenzustimmen, so wie Sie das gemacht haben, wäre der völlig falsche Weg gewesen. Zur Solidarität in Europa gehört dazu, dass man mit den Krisenländern solidarisch ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber auch in den reicheren Ländern nimmt die Zustimmung zur EU ab, weil es hier die Vorstellung gibt die auch von Linken und anderen geschürt wird , dass viel Geld für Bankenrettung verschwendet würde und bei uns nicht mehr genügend Geld für Sozialleistungen zur Bekämpfung von Armut zur Verfügung stünde.
Wenn man sich die Situation in Deutschland anschaut, erkennt man, dass die Armut auf einem hohen Niveau verharrt. Die Altersarmut steigt, die Armut von Erwerbstätigen steigt, und die Armut von Kindern ist nach wie vor auf einem skandalös hohen Niveau. Das müssen wir ändern.
Wir brauchen in ganz Europa, dass die „starken Schultern“ in allen Ländern mit den Schwachen in allen Ländern solidarisch sind. Das ist eine Vision von Europa, wie wir sie eigentlich haben müssten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die EU ist dabei gar nicht so schlecht, wie sie von der Linken immer gemacht wird. Sozialpolitische Ziele gibt es spätestens seit dem Gipfel von Lissabon 2000. Seitdem gibt es jährlich eine einheitliche Armutsberichterstattung auf der Basis gemeinsamer Indikatoren. Die Mitgliedstaaten müssen darlegen, was sie zur Bekämpfung der Armut unternehmen. Das ist durch den Lissabon-Vertrag noch einmal gestärkt worden, in dem die sozialpolitischen Ziele ausdrücklich benannt sind.. Herr Kollege Helfrich hat auf die Strategie „Europa 2020“ hingewiesen, aber ein wesentliches Ziel komplett vergessen, nämlich das Ziel der Armutsreduktion, das zum ersten Mal ein quantitatives Ziel ist. Danach soll die Zahl der Armen in Europa um 10 Prozent reduziert werden.
Was hat die schwarz-gelbe Bundesregierung seinerzeit gemacht? Sie hat gesagt: Die Kriterien der EU gefallen uns nicht. Wir suchen uns ein neues Kriterium aus, an dem wir das festmachen. Wo kommen wir denn hin, wenn sich jedes Land seine eigenen Kriterien aussucht und sagt: „Wir halten uns nicht daran“? Es ist wichtig, dass wir an dieser Stelle europäische Kriterien haben. Ich fordere die Regierung auf: Halten Sie sich an die in der EU vereinbarten Indikatoren, und sichern Sie zu, dass Deutschland seinen Beitrag zur Reduzierung von Armut leisten wird!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Was ist nötig, und welche Möglichkeiten hat die Union? Es ist richtig, es gibt auf europäischer Ebene keine sozialpolitischen Kompetenzen im engeren Sinne, aber es gibt die Möglichkeit, Zielsetzungen zu vereinbaren. Es gibt die Offene Methode der Koordinierung. Es gibt die Möglichkeit, soziale und andere Mindeststandards zu setzen. Es wäre wichtig, solche Mindeststandards zu formulieren, auch was die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern angeht. Man könnte auf europäischer Ebene vereinbaren, dass in allen Ländern Grundsicherungssysteme eingeführt werden, die es in einigen Ländern nicht gibt, zum Beispiel in Griechenland. Die haben nicht einmal so etwas wie Hartz IV. Man könnte vereinbaren, dass alle Menschen Zugang zur sozialen Sicherung haben, dass es Netze der sozialen Sicherung ohne Lücken gibt. Das sind Zielvereinbarungen, die durchaus möglich wären.
Im Rahmen der Krisenpolitik wäre der Effekt noch stärker. Man hätte den Griechen sagen können: Wir helfen nur unter der Bedingung, dass ein Grundsicherungssystem eingeführt wird,

(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Warum haben Sie es nicht gesagt?)

wir helfen nur unter der Bedingung, dass arbeitsrechtliche Standards eingeführt und sogar verbessert werden. Wir hätten helfen können unter der Bedingung, dass die gesundheitlichen Mindeststandards eingehalten werden. Wir hätten nicht zuletzt auch zur Bedingung machen müssen, dass sich die Reichen an der Finanzierung der Krise und der Hilfen durch eine höhere Besteuerung beteiligen. Das alles hätte man machen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir als Grüne wollen aber noch weiter gehen. Wir wollen, dass im Rahmen der Diskussion über mehr wirtschafts- und finanzpolitische Kompetenzen der EU auch über sozialpolitische Kompetenzen der EU geredet wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist notwendig, dass man Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik auf europäischer Ebene stärker koordiniert. Deswegen wollen wir einen Europäischen Konvent, bei dem auch das ist wichtig öffentlich diskutiert wird, was dort passiert; denn wir wollen ein demokratisches Europa, in dem die Menschen mitbestimmen können, welche Kompetenzen in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen und Soziales auf EU-Ebene angesiedelt werden sollen.

Wir Grüne wollen ein ökologischeres, demokratischeres und sozialeres Europa. Ich finde, es lohnt sich für uns alle, gemeinsam dafür zu kämpfen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

 
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