Sozialpolitik sollte man daran bemessen, was sie für jene Menschen leistet, die am Rande der Gesellschaft stehen oder ausgegrenzt sind. Meine Rede zum Haushaltsentwurf für den Einzelplan 11 “Arbeit und Soziales”
Protokoll:
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gute Sozialpolitik bemisst sich nicht einfach daran, wie viel Geld ausgegeben wird. In diesem Bundeshaushalt wird in der Tat viel Geld ausgegeben. Aber entscheidend ist, was hinten rauskommt.
(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Da hatte Helmut Kohl mal recht!)
- „Da hatte Helmut Kohl völlig Recht“, sagt der Kollege Birkwald von den Linken. – Gute Sozialpolitik ist vor allem danach zu bewerten, wie wir mit denen umgehen, die am Rand der Gesellschaft stehen oder ausgegrenzt werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Diesbezüglich ist die Bundesregierung eine einzige schwarz-rote Null.
Heute ist Tag der Wohnungslosen. Wir haben die Bundesregierung aus diesem Anlass befragt. Das Ergebnis war: Erstens. Die Bundesregierung hat keine eigenen Zahlen, sondern verweist auf die Zahlen der BAG Wohnungslosenhilfe, die zwangsläufig a) nicht aktuell genug sind und b) nur grobe Schätzungen sind. Wir brauchen endlich eine offizielle Wohnungslosen- und Obdachlosenstatistik, um zielgenau helfen zu können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Zweitens wurde an Ihrer Antwort deutlich: Sie haben überhaupt kein Interesse am Thema Obdachlosigkeit. Sie haben auch kein Interesse daran, etwas dagegen zu unternehmen. Überhaupt ist Armut für Sie kein Thema. Auch diesmal haben wir nichts zu diesem Thema gehört. Die armen Menschen sind Ihnen schlicht egal.
Wir haben eben gehört, Sie seien – angeblich – eine christlich-sozialdemokratische oder christlich-soziale Koalition. Wenn man sich nicht einmal ein kleines bisschen um die Bekämpfung der Armut bemüht, ist das weder sozial noch christlich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Ein paar Beispiele dazu. Die Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft zur Rechtsvereinfachung der passiven Leistungen im SGB II – ein fürchterlicher Name – ist von der Kollegin Katja Kipping schon angesprochen worden. So wie sich der Titel anhört, war auch ihre Arbeit. Es ging um Rechtsvereinfachung und Verwaltungsvereinfachung, allerdings nur aus Sicht der Verwaltung bzw. der Behörde und überhaupt nicht aus Sicht der betroffenen Menschen. Das wäre aber das, was unbedingt nötig ist. Wir brauchen tatsächlich Vereinfachungen, weniger Hürden, einfachere Regeln, aber aus Sicht der Betroffenen, damit sie leichter an die Leistungen kommen.
Wir brauchen auch ein konsistentes, transparentes Grundsicherungssystem. Sechs verschiedene Grundsicherungsleistungen sind in vier verschiedenen Gesetzen geregelt. Zählt man das BAföG dazu, haben wir sogar fünf Gesetze und sieben Leistungen. Das alles ist nicht wirklich konsistent. Das führt dazu, dass Menschen Leistungen gar nicht in Anspruch nehmen, teilweise von einem System in das andere geschoben werden, durch das Netz fallen. Hier müsste man ansetzen, um tatsächlich ein stabiles Grundsicherungsnetz hinzubekommen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Was wir natürlich auch brauchen, ist ein höherer Regelsatz. Es kann nicht sein, dass der Regelsatz immer weiter unter das Niveau der Armutsrisikogrenze sinkt.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zu diesem Thema gab es in dieser Woche zwei Nachrichten.
Erstens gab es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Regelsatz. Wenn man es genau liest, stellt man fest: Es ist eine Ohrfeige für die vorige Bundesregierung. Das gilt aber auch im Hinblick auf die Berechnungen, die zuvor angestellt worden sind. Alle Rechentricks, die angewendet worden sind, um den Regelsatz niedrig zu halten, sind in diesem Urteil aufgeführt. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Der Regelsatz ist trotzdem verfassungsgemäß, aber nur noch so gerade eben. – Es hat die Bundesregierung aufgefordert, nachzuweisen, dass die einzelnen Bestandteile des Regelsatzes tatsächlich existenzsichernd sind. Diesen Nachweis müssen Sie jetzt erbringen. Sie müssen belegen, ob seine Bestandteile existenzsichernd sind oder nicht, und entsprechende Studien in Auftrag geben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Die zweite Nachricht dieser Woche lautet: Der Regelsatz wird um 8 Euro erhöht – um sage und schreibe 8 Euro. Die Bild-Zeitung hat daraus gleich einen Skandal gemacht, weil dadurch der Regelsatz stärker steigt als die Rente.
Der Peter Weiß, den ich ja sonst sehr schätze, sagte dann:
Es war nicht die Politik, sondern das Bundesverfassungsgericht, das entschieden hat, die Leistungssätze für die Grundsicherung von Arbeitslosen von der Entwicklung der Renten abzukoppeln.
Das sei „bedauerlich“, sagte er weiter.
(Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Ja, das war leider so!)
Dabei geht es ‑ wie gesagt ‑ um 8 Euro. Ich fordere Sie auf: Hören Sie endlich auf mit diesen Neiddebatten, und hören Sie auf mit dem Bashing des Bundesverfassungsgerichts!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Apropos Bundesverfassungsgericht. Vor über zwei Jahren hat das Bundesverfassungsgericht das Asylbewerberleistungsgesetz für verfassungswidrig erklärt. Jetzt gibt es nach über zwei Jahren immerhin einen Gesetzentwurf.
(Kerstin Griese (SPD): Schneller als die Regierung davor!)
Das ist ja schon einmal etwas. Aber die eigentlich konsequente Lösung, nämlich die einfachste und sozialste, die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes, findet wieder nicht statt. Das Gesetz gehört abgeschafft.
(Beifall der Abg. Halina Wawzyniak (DIE LINKE))
Das wäre auch ein Beitrag zum Abbau von Bürokratie und zur Rechtsvereinfachung, und das würde der Diskriminierung von Asylbewerbern als Menschen zweiter Klasse ein Ende setzen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Wer Asyl beantragt hat, sollte auch arbeiten dürfen, und wenn sie oder er keine Arbeit findet oder zu wenig verdient, dann gibt es Hartz IV. Punkt! Es gibt keinen Grund für eine Grundsicherung zweiter Klasse und keinen Grund dafür, Asylbewerber anders zu behandeln als andere Menschen, die hier leben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Das gilt auch für Unionsbürgerinnen und ‑bürger, die vor Armut und Diskriminierung fliehen. Wir müssen Menschen, die zu uns kommen, die vor Armut und Diskriminierung geflohen sind, helfen und unterstützen, dürfen sie nicht diskriminieren und wieder in Armut stürzen.
(Kerstin Griese (SPD): Deshalb verbessern wir doch die Leistung!)
Weiter müssen wir an den Ursachen der Armutsflucht ansetzen. Dafür bräuchte es einen stärkeren Einsatz dieser Bundesregierung für Armutsbekämpfung auf europäischer Ebene. Aber auch an dieser Stelle ist diese Regierung eine schwarz-rote Null. Auch ein soziales Europa, bessere Armutsbekämpfung insgesamt, ist kein Thema. Ein „soziales Europa“ werden wir sicherlich an anderer Stelle noch ausführlicher diskutieren.
Klar ist: Die Politik der Bundesregierung geht tatsächlich an den Schwächsten in diesem Land vorbei, und ‑ wie gesagt ‑ das ist eine einzige schwarz-rote Null an dieser Stelle.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)