Regierungsbefragung | 21.09.2016

Gesetzentwurf zur Ermittlung der Regelbedarfe im SGB II und SGB XII

Am 21.09.2016 fand die Regierungsbefragung im Bundestag zum Gesetzentwurf für die Regelsatzneuberechnung statt. Der Entwurf der Bundesregierung ist gespickt mit groben methodischen Fahrlässigkeiten und Rechentricks. Wie schon beim letzten Mal der Regelsatz klein gerechnet. Im Ergebnis erhalten Hartz-IV-Bezieher erheblich weniger als die 15 Prozent der Bevölkerung, die mit den geringsten Einkommen auskommen und die als Vergleichsgruppe für die Berechnung verwendet werden.

In der Regierungsbefragung konfrontierte Wolfgang Strengmann-Kuhn und seine FraktionskollegInnen die Bundesministerin Andrea Nahles mit ihren Rechentricks.

Regierungsbefragung vom 21.09.2016

Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch. Hierzu erteile ich das Wort für einen einleitenden fünfminütigen Bericht der zuständigen Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Frau Nahles. Ich bitte die Fraktionen, soweit erkennbar, mir vielleicht schon einmal gewünschte Nachfragen mitzuteilen, damit wir sie ein bisschen vorsortieren können. – Frau Nahles, bitte schön.

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat heute den Entwurf des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes auf den Weg gebracht. Damit setzen wir die Regelbedarfe für das SGB II und das SGB XII ab 1. Januar 2017 fest. Die Festsetzung der Regelbedarfe beruht auf der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe aus dem Jahr 2013. Wichtig ist es mir, hier festzuhalten: Der Entwurf stellt niemanden schlechter. Im Gegenteil: Die Beträge für die meisten Bedarfsstufen steigen an, zum Teil deutlich. Die Methode, die wir bei der Berechnung der Regelbedarfe anwenden, hat das Bundesverfassungsgericht erst im Jahr 2014 grundsätzlich bestätigt. Die Kritikpunkte des Gerichtes haben wir bei der Neuberechnung berücksichtigt. Das betraf zum einen die Ermittlung der Verbrauchsausgaben für Mobilität und zum anderen die Jugendlichen zugeordneten Ausgaben für alkoholische Getränke und Tabakwaren sowie weitere Prüfaufträge. Die Regelbedarfe sollen zum 1. Januar 2017 wie folgt erhöht werden: Der Regelbedarf für eine alleinstehende Person steigt ab 1. Januar 2017 um 5 Euro von 404 Euro auf 409 Euro; für Partner in Paarhaushalten um 4 Euro von 364 Euro auf 368 Euro. Für Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren steigt der Regelbedarf von bislang 270 Euro auf 291 Euro, also eine ordentliche Steigerung um 21 Euro. Bei den unter Sechsjährigen wird die Höhe des bisherigen Regelbedarfes durch eine Besitzstandsregelung gesichert. Maßgeblich für die Zuordnung in die Regelbedarfsstufe 1 oder 2 – das ist eine wichtige Neuerung – wird in Zukunft sein, ob Personen zusammen mit ihrem Partner in einer Wohnung leben oder nicht. Das bisherige Merkmal, nämlich eine „gemeinsame Haushaltsführung“, entfällt, um Schwierigkeiten bei der Zuordnung künftig zu vermeiden. Das gilt auch für erwachsene Menschen mit Behinderungen im Haushalt der Eltern, der Freunde oder Verwandten. Künftig gilt für sie dauerhaft die höhere Regelbedarfsstufe 1. Das ist eine wesentliche Verbesserung. Außerdem berücksichtigt der vorliegende Entwurf, dass es den Begriff der „Unterbringung in einer stationären Einrichtung“ für Menschen mit Behinderungen nach Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes, das noch diese Woche ins Parlament eingebracht wird, ab 2020 nicht mehr geben wird. Die neuen Wohnformen, in denen auch Leistungen der Eingliederungshilfe erbracht werden, werden wegen ihrer Ausstattung mit einem Paarhaushalt vergleichbar sein. Damit gilt für ihre Bewohner Regelbedarfsstufe 2. Neu und wichtig als Verbesserung haben wir eingeführt, dass Erwerbsunfähige und Ältere im Haushalt naher Angehöriger künftig auch pauschale Aufwendungen für Unterkunft und Heizung erhalten. Diese werden anerkannt; das war bisher oftmals nicht so. Diese Regelung stellt sicher, dass die nahen Angehörigen finanziell nicht belastet werden, da sie für Leistungsberechtigte in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung grundsätzlich kein eigenes Einkommen und Vermögen einsetzen müssen. Damit die neuen Regelbedarfe zum 1. Januar 2017 in Kraft treten können, muss der Gesetzentwurf nun zügig den Bundestag und den Bundesrat passieren. Vielen Dank.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Die erste Nachfrage geht an den Kollegen Wunderlich.

Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, bei den Regelbedarfen haben sich zahlreiche Verbände für die Einführung eines Unterhaltsmehrbedarfs bei Kindern getrennt lebender Eltern ausgesprochen. Dieser wurde bisher nicht berücksichtigt. Was spricht aus Sicht der Bundesregierung gegen eine Berücksichtigung des spezifischen Bedarfs von Kindern getrennt lebender Eltern?

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Aus meiner Sicht ist das eine wünschenswerte Ergänzung, und wir sind an dieser Stelle in enger Beratung mit den Regierungsfraktionen. Das könnte man im Laufe des parlamentarischen Verfahrens noch klären.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Dagmar Schmidt.

Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): Sehr geehrte Ministerin, es gab bereits bei der letzten Neuermittlung der Regelbedarfe Kritik auch vonseiten der SPD. Vielleicht können Sie noch einmal darstellen, was bei der Neuermittlung der Regelbedarfe in diesem Jahr im Vergleich zur letzten Ermittlung geändert wurde.

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Bei der Neuermittlung der Regelbedarfe wurde grundsätzlich die gleiche Vorgehensweise angewendet wie bei der Bemessung nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008. Warum? Zunächst wurde damals dieses Verfahren kritisiert und dann vor das Bundesverfassungsgericht gebracht, das es im Juli 2014 im Grundsatz bestätigt hat. Es gibt zwar andere Methoden der Berechnung, die man heranziehen könnte, zum Beispiel den Warenkorb, der vor 20 Jahren Grundlage der Berechnung war. Ich bin aber, ehrlich gesagt, froh, dass wir von diesem Verfahren weggekommen sind, weil der Staat mit imaginären Warenkörben, die er befüllt, am Ende nicht wirklich besser gefahren ist, als wenn reale Ausgaben zugrunde gelegt werden. Eine wirkliche Änderung und Verbesserung ist insbesondere, dass wir das Merkmal der Haushaltsführung abschaffen. Es hat auch immer wieder für Irritationen gesorgt – es wurde auch als Schnüffelei betrachtet –, warum gerade in der Sozialhilfe nachgewiesen werden musste, ob jemand allein den Haushalt führt oder ob eine gemeinsame Haushaltsführung vorliegt. Das ist nun eine massive Veränderung.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin.

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Auch dass die Kosten der Unterkunft in der Weise, wie ich es eben dargelegt habe, angerechnet werden, ist eine wesentliche Veränderung gegenüber der bisherigen Ermittlung.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Es ist halt alles kompliziert. Das ist wahr. – Nächste Frage: Kollege Strengmann-Kuhn. Dr. Wolfgang

Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Vielen Dank. – Es geht um 8 Millionen Menschen, die Grundsicherungsleistungen beziehen, und das Verfahren ist eigentlich so, dass als Referenzgruppe eine Niedrigeinkommensgruppe betrachtet wird, die selber schon ein sehr geringes Einkommen hat. Es ist aber nicht so, wie Sie gesagt haben, dass einfach deren Ausgaben genommen werden, sondern Sie machen es wie beim Warenkorbmodell, dass Sie zusätzliche Sachen herausrechnen. Darunter sind zum Beispiel Zimmerpflanzen, Haustiere, Gartenpflege, der Weihnachtsbaum, ein Handy, der Babysitter bei Schichtdienst, aber auch ein Gaststättenbesuch. Wie rechtfertigen Sie diese massive Einschränkung der sozialen und kulturellen Teilhabe gerade bei diesen Menschen mit geringen Einkommen – das ist, wie gesagt, ein großer Teil der Bevölkerung –, und trägt das zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei? Diese Forderung trägt ja auch die SPD in Wahlkämpfen und Sonntagsreden vor sich her.

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Es gibt eine Unterscheidung, die auch das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat, zwischen den Leistungen, die für das Existenzminimum relevant und erforderlich sind – dabei haben wir allerdings wenig Spielraum, und da gab es auch Kritik an der letzten EVS 2008 und den Berechnungen, die zugrunde gelegt wurden, das hatte ich vorgetragen, nämlich in Bezug auf Mobilitätskosten, die wir jetzt mit berücksichtigen –, und den darüber hinausgehenden Leistungen. Bei darüber hinausgehenden Leistungen – Sie haben von kulturellen gesprochen – haben wir Spielraum. Die entsprechenden Entscheidungen müssen von Mal zu Mal getroffen werden. Das rechtfertige ich damit, dass ich das, was wir vorschlagen, für angemessen und ausgewogen halte.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Die nächste Fragestellerin ist Frau Schimke.

Jana Schimke (CDU/CSU): Frau Ministerin, anhand der gestellten Fragen wurde deutlich, dass das Statistikmodell von vielen kritisiert und die Warenkorbmethode favorisiert wird. Könnten Sie vielleicht noch einmal die besonderen Vorteile der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe darlegen?

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Wie schon Herr Strengmann-Kuhn gesagt hat, liegen den Berechnungen reale Ausgaben zugrunde. Das reale Ausgabeverhalten von 15 bis 20 Prozent der einkommensschwachen Haushalte bzw. der unteren Einkommensgruppen wird hier zugrunde gelegt. Übrigens werden die Hartz-IV-Bezieher nicht berücksichtigt, damit es keinen Karusselleffekt nach unten gibt.

(Katja Kipping [DIE LINKE]: Aber die Aufstocker nicht!)

Das ist realitätsnäher als ein imaginärer Warenkorb, den der Staat zusammenstellt. Ich bin in der Sozialpolitik mit einem solchen Warenkorbmodell groß geworden. Ein solches Modell gab es noch zu Beginn meiner sozialpolitischen Tätigkeit. Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Der Streit war immer sehr groß, beispielsweise darüber, ob die Ausgaben für eine halbe Kinokarte berücksichtigt werden sollten oder nicht. Wie Sie aber sehen, können wir solche Auseinandersetzungen auch mit der jetzigen Methode nicht völlig auflösen. Die grundlegende Aufgabe ist, die Existenz zu sichern und bis zu einem bestimmten Grad eine kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Es lohnt sich jedenfalls, das Ganze immer wieder zu überprüfen. Das haben wir auch gemacht, bevor wir die nun zur Diskussion stehenden Änderungen vorgenommen haben.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kipping, bitte.

Katja Kipping (DIE LINKE):  Frau Ministerin, als das letzte Mal die Hartz-IV-Regelsätze neu berechnet wurden, waren Sie noch in der Opposition. Das passierte damals unter Ursula von der Leyen. Sie haben im Jahr 2010 gegenüber der Rheinischen Post und anderen Zeitungen gesagt, das sei künstlich heruntergerechnet. Nun haben Sie als Ministerin dieselben Parameter zugrunde gelegt. Warum handelt es sich jetzt nicht um ein künstliches Herunterrechnen des Hartz-IV-Regelsatzes?

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Wir haben intensiv geprüft und festgestellt – genauso wie damals das Bundesverfassungsgericht –, dass insbesondere Mobilitätskosten nicht in ausreichendem Umfang sowie Ausgaben für Tabak- und Alkoholkonsum für Jugendliche in zu hohem Umfang berücksichtigt werden. Das haben wir jetzt korrigiert. Darüber hinaus ist wichtig – ich betone das –, dass nun die KdU, die bei nahen Verwandten angefallen sind, berücksichtigt werden. Ich kann also guten Gewissens sagen, dass wir das, was aus unserer Sicht begründbar ist, einbeziehen. Wir rechnen nichts herunter. Was wir tun, hat Hand und Fuß.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kolbe.

Daniela Kolbe (SPD): Sehr verehrte Frau Ministerin, es gibt noch einen Kritikpunkt betreffend die Bemessungsgrundlage. Es wird darauf hingewiesen, dass sich in der Referenzgruppe auch Menschen befinden, die eigentlich Ansprüche auf Sozialleistungen haben, Stichwort „verdeckte Armut“. Was entgegnen Sie dieser Kritik?

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Das haben wir sehr intensiv geprüft. Das war einer der Prüfaufträge, die das Bundesverfassungsgericht angemahnt hatte. Ich halte das für eine wichtige Frage. Aber ich muss leider zugeben, dass wir dies nicht befriedigend lösen können, weil es uns nicht gelungen ist, herauszufinden, wie viel verdeckte Armut es wirklich gibt. Die hier herrschende Unsicherheit ist so erheblich, dass wir nicht zu Schätzungen mit einer gewissen Substanz kommen konnten. Die hieran geäußerte Kritik kann ich leider nicht völlig ausräumen. Es gibt verdeckte Armut. Aber wir können sie methodisch nicht erfassen und daher keine entsprechenden Einschätzungen vornehmen. Wie der Name schon sagt: verdeckte Armut.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Brantner.

Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie haben gerade auf die Frage von Herrn Wunderlich geantwortet, dass Sie als Regierung die Einführung eines Anspruchs auf Umgangsmehrbedarf als sehr positiv betrachten. Frau Schwesig hatte dies schon am 4. Mai 2016 angekündigt. Das Parlament könnte es ja einbringen. Trotzdem würde ich gerne verstehen: Warum ist es denn bisher von Ihnen noch nicht gekommen, wenn Sie alle es eigentlich richtig finden? Wo liegen denn die Probleme? Warum ist es noch nicht Teil Ihrer Vorlage?

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Wir diskutieren darüber mit den Regierungsfraktionen, und hoffentlich gibt es da bald eine Einigung. Es gab ja einen Vorlauf dergestalt, dass in der Öffentlichkeit Behauptungen umgingen, dass wir hier – was überhaupt nicht stimmt – eine Leistungskürzung vornehmen würden. Wir wollten hier lediglich – basierend auf einem Bundessozialgerichtsurteil – im sogenannten SGB-II-Rechtsvereinfachungsgesetz eine Klarstellung vornehmen. Dabei ist dann eben auch herausgekommen, dass es durchaus berechtigte Gründe gibt, diesen Mehrbedarf anders zu behandeln, als wir es bisher gemacht haben. Ich bin zuversichtlich, dass wir das noch zu einem positiven Abschluss bringen werden.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Matthäus Strebl.

Matthäus Strebl (CDU/CSU): Frau Ministerin, meine Frage geht auch in diese Richtung: Wie wir ja wissen, hat das Bundesverfassungsgericht vorgegeben, dass der Gesetzgeber dafür Sorge zu tragen hat, dass erkennbare Risiken einer Unterdeckung existenzsichernder Bedarfe im Einzelfall vermieden werden müssen. Meine Frage an Sie: Wie wird dieser Forderung nachgekommen?

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Das ist etwas, wo es in der Praxis tatsächlich immer wieder erhebliche Bedarfe gibt. Wir haben hier, wie ich finde, im SGB II eine angemessene Darlehenslösung, und zwar sowohl hinsichtlich der Voraussetzungen für die Beantragung von Darlehen zur Überbrückung schwieriger Situationen als auch hinsichtlich der sehr großzügigen Rückzahlungsmodalitäten. Das ist für die Betroffenen, glaube ich, bewältigbar ausgestaltet worden. Damit versuchen wir, das jetzt in den Griff zu kriegen. Ich glaube, das funktioniert auch. Insoweit hoffe ich, dass wir das auch in einigen Jahren in der Rückbetrachtung so bilanzieren können.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Müller-Gemmeke.

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Frau Ministerin, ist es richtig, dass beim Regelsatz für Kinder und Jugendliche beispielsweise Kosten für Malstifte, einen Regenschirm oder Handys nicht vorgesehen sind? Und ist es auch richtig, dass es kein Geld dafür gibt, damit Kinder im Sommer beispielsweise mit Freundinnen einmal ein Eis essen gehen können? Wenn das so stimmt, sind Sie dann der Auffassung, dass damit das Existenzminimum und die gesellschaftliche Teilhabe gesichert sind?

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Nun, das alles ist richtig, und Sie wissen das auch. Sie knüpfen die Frage daran an: Ist das gerechtfertigt? Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Es gibt ganz viele Leute, die in Arbeit sind und wenig Einkommen – vielleicht den Mindestlohn – haben. Auch diese müssen da abwägen und können auch nur eingeschränkt Teilhabe wahrnehmen. Ich denke, das ist deswegen ein grundsätzliches Problem. Wir haben versucht, im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepaketes gerade junge Leute in Bezug auf Schulausflüge, Mittagessen und anderes zu unterstützen. Auch Nachhilfe wird mittlerweile in diesem Bereich finanziert. Das alles sind unsere Maßnahmen, um genau die Teilhabe, von der Sie reden, auch zu ermöglichen. Aber natürlich hat das auch Grenzen. Es ist nicht schön, wenn ich Folgendes sagen muss: Das hat nicht nur Grenzen, weil der Finanzminister vielleicht zu wenig Geld hat, sondern weil es natürlich auch um eine Relation geht. Es geht um die Relation zwischen denen, die wir im Rahmen des SGB-II- und SGB-XII-Regelkreises unterstützen, und denen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten und vielleicht keine hohen Löhne bzw. Einkommen haben.

(Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist zynisch!)

Genau diese Gruppe von Menschen ist ebenfalls in ihren Möglichkeiten eingeschränkt. Sie mögen das anders sehen, aber es ist meine feste Überzeugung, dass wir auch das insgesamt betrachten müssen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Kollege Paschke.

Markus Paschke (SPD): Frau Ministerin, das Bundesverfassungsgericht hat auf die Notwendigkeit einer laufenden Überprüfung der Höhe der Regelbedarfe bei außergewöhnlich hohen Preissteigerungen hingewiesen. Das spielte ja eine Zeit lang in Bezug auf das Thema Stromkosten eine Rolle. Wie wurde dem im Entwurf Rechnung getragen?

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Das BMAS teilt die Auffassung, dass der Gesetzgeber ganz klar verfassungsrechtlich verpflichtet ist, zu raschen Anpassungen zu kommen, wenn es extreme Preisentwicklungen gibt. Diese sind in der Vergangenheit hauptsächlich im Zusammenhang mit Stromkosten aufgetreten. Das Statistische Bundesamt stellt uns deswegen nicht nur einmal jährlich eine Übersicht über die Veränderungen bei dieser relevanten Personengruppe zur Verfügung – das wäre ein ziemlich langer Zeitraum –, sondern – das kann ich Ihnen versichern – das Statistische Bundesamt legt uns monatlich Daten über diese Entwicklung vor, die uns zur Verfügung stehen. Wir könnten deswegen unmittelbar darauf reagieren. Es ergibt sich aus meiner Sicht keine Notwendigkeit, das gesondert zu regeln. Vielmehr können wir aufgrund des sehr intensiven monatlichen Monitorings sicherstellen, dass wir gegebenenfalls intervenieren. Die gute Nachricht ist: Aufgrund der sehr verhaltenen Preisdynamik hat es solche Fälle in den letzten Jahren nicht gegeben. Wir erwarten sie auch nicht für dieses oder nächstes Jahr.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin Haßelmann.

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, es klingt schon irgendwie zynisch, was die Grenze bei den Malstiften und dem Adventsschmuck angeht, muss ich Ihnen ehrlich sagen.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Ja, natürlich!)

Es ist schwer zu verstehen, wie Sie die natürliche Grenze begründen. Meine Frage betrifft aber ein anderes Thema. Im monatlichen Regelbedarf sind 3 Euro für die Anschaffung von Kühlschränken und Waschmaschinen vorgesehen. Jeder und jede von uns kann sich vorstellen, wie lange man 3 Euro pro Monat ansparen muss, wenn man ein einigermaßen energiesparendes Gerät kaufen will. Ich befürchte, dass Sie mir die gleiche Antwort mit dem Hinweis auf das Lohnabstandsgebot geben wie gerade meiner Kollegin zu den Malstiften. Dennoch meine Frage: Sind Sie der Auffassung, dass es realistisch ist, mit dem Ansparen von 3 Euro monatlich zu einer Waschmaschine, die einigermaßen modernen Energiestandards entspricht, zu kommen? Was halten Sie von dem Vorschlag, weiße Ware auf Antrag als einmalige Leistung beziehen zu können und aus dem Regelsatz herauszunehmen?

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
Es gibt sicherlich viele ähnliche Beispiele. Würde man das aufgreifen, würde das jedoch eine andere Systematik nach sich ziehen. Wenn man das alles summiert, kommt man am Ende doch wieder zu einem Warenkorbmodell. Darüber kann man diskutieren. Aber wenn Sie die verschiedenen Waren, die Sie jetzt, durchaus plausibel, auf zählen, aus dem Regelsatz herausnehmen wollen, dann ist das am Ende ein Warenkorbmodell. Wir haben eine andere Herangehensweise. Man kann über die Grundlagen streiten, und das haben wir auch bis hin zum Bundesverfassungsgericht gemacht. Solange wir aber bei unserer Systematik bleiben – mit diesem Entwurf tun wir das –, ist der Bedarf erst einmal abgedeckt. Das Ansparen ist mit den 3 Euro möglich. Wenn das nicht geht, greift die Darlehensregelung, die ich Ihnen eben dargelegt habe, womit Sonderbedarfe so abgedeckt werden können, dass die Leute sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten finanzieren können. Im Übrigen ist Ehrlichkeit nicht zynisch.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Lezius.

Antje Lezius (CDU/CSU): Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Frau Ministerin, mit den Regelbedarfen wird ein Teil des soziokulturellen Existenzminimums festgelegt. Dieser Bedarf kann, wie wir gehört haben, auf unterschiedliche Weise ermittelt werden. Das Bundesverfassungsgericht – das haben Sie eben erklärt – hat kritisiert, dass durch die Nichtberücksichtigung von Haushalten mit Kfz-Kosten der Mobilitätsbedarf nur unzureichend abgebildet wird. Mobilität sei aber zur Teilhabe an der Gesellschaft besonders wichtig. Werden nunmehr Kfz-Kosten beim Mobilitätsbedarf berücksichtigt?

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Das war nicht ganz präzise. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht die Entscheidung kritisiert, Kfz-Kosten nicht im Regelbedarf zu berücksichtigen. Das hat es erst einmal akzeptiert. Wenn man das aber tue, was wir gemacht haben, müsse berücksichtigt werden, dass der Mobilitätsbedarf von Personen, die Kfz-Kosten hatten, bei bloßer Nichtberücksichtigung statistisch unterfasst bleibe. Das ist genau das, was ich immer mit Mobilitätskosten beschreibe, bezüglich derer kritisiert wurde, dass wir diese nicht ausreichend berücksichtigen. Was haben wir jetzt gemacht? Wir haben uns mit Fachleuten beraten. Dann haben wir gesagt: Wir berücksichtigen bei den Regelbedarfen die ermittelten Verbrauchsausgaben im ÖPNV, und diese sind jetzt hier mit eingeflossen.

 Präsident Dr. Norbert Lammert: Kollege Wunderlich.

Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Vielen Dank. – Ich muss jetzt eins sagen: Frau Ministerin, Sie haben vorhin vorgetragen, der Hartz-IV-Regelsatz für Kinder in der Altersgruppe 6 bis 13 Jahre solle von 270 Euro auf 291 Euro angehoben werden, und behauptet, dies sei ein richtig dicker Batzen. Ich meine, das ist der Beweis dafür, dass jahrelang unterfinanziert worden ist und dass das Existenzminimum dieser Altersgruppe eben nicht bedarfsgerecht abgedeckt worden ist. Nur so viel dazu. Sie sprachen gerade das Bildungs- und Teilhabepaket an. Nach wie vor wird da nichts dynamisiert. Es gibt ein schwieriges Antragsverfahren. Bleiben Sie dabei, dass der Regelbedarf für Schulmaterial 100 Euro pro Schuljahr beträgt, obwohl eine aktuelle Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD besagt, es seien mindestens 150 Euro pro Schuljahr nötig? Das heißt, dadurch werden trotz eines Bildungs-und Teilhabepaketes die Bildungs- und Startchancen für das Leben weiterhin verschlechtert. Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Ja, dabei bleiben wir.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Verlinden.

Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Ministerin, aus einer Studie zum Stromverbrauch, die im Jahr 2015 erstellt wurde, geht hervor, dass bei den Vergleichshaushalten der monatlich im Regelsatz fehlende Betrag für Strom abhängig von der Größe eines Haushalts zwischen 5 und 11 Euro liegt. Da der Regelsatz nur um 5 Euro angehoben wurde im Vergleich zu 2011, liegt womöglich eine Unterdeckung vor. Wie wollen Sie sicherstellen, dass es in Zukunft trotz dieser Diskrepanz – 5 Euro bis 11 Euro monatliche Unterdeckung bei den Stromkosten, je nach Haushaltsgröße; Sie haben mit 5 Euro gerechnet – zu keiner Bedarfsunterdeckung kommen wird, zumal es ja für Menschen, die im SGB-II-Bezug sind, gar nicht so einfach ist, ihren Stromanbieter zu wechseln? Es gibt zum Teil Tarife, die sehr viel günstiger sind, womit man die Stromkosten reduzieren könnte; dennoch ist es aufgrund von Schufa-Einträgen oder anderem für manche Menschen gar nicht so einfach, den Stromanbieter zu wechseln. Deswegen ist es sehr wichtig, zu schauen, dass die Grundversorgertarife mit dem übereinstimmen, was Sie den Menschen mit dem Regelsatz zur Verfügung stellen.

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Es wird hier immer wieder der Eindruck erweckt, als ob wir im Bundesarbeitsministerium die Regelsätze zusammenwürfelten. Das ist aber nicht der Fall. Wenn Sie behaupten, wir hätten 5 Euro für Stromkosten angesetzt, obwohl eigentlich bis zu 11 Euro angemessen wären, dann ist das nicht korrekt. Wir haben hier die realen Ausgaben der einkommensschwachen Haushalte zugrunde gelegt, und diese Ausgaben haben wir uns nicht ausgedacht. Deswegen bestreite ich erst einmal, dass es diese Diskrepanz in dieser Form gibt. Wir haben in den Gesetzentwurf Mechanismen eingebaut, durch die zum Beispiel abgestellt wird, dass es an einer Stelle eine Lücke gibt, nämlich dass KdU-Kosten nicht übernommen werden, wenn jemand bei nahen Verwandten lebt. Die Kritik, die es am bisherigen Zustand gab, akzeptiere ich, und wir haben daraus die Konsequenzen gezogen. Aber grundsätzlich kann ich dem, was Sie sagen, nicht folgen. Interessant ist – das will ich gerne mitnehmen; wir werden gerne noch einmal überlegen, was wir da tun können – die mit dem Wechsel zu einem günstigeren Anbieter verbundene Problematik. Die ist mir bekannt. Ich finde Ihren Hinweis darauf erst einmal richtig. Ich würde gerne schauen, ob es dafür nicht eine vernünftige Lösung gibt, weil das ja eigentlich nicht in unser aller Interesse sein kann.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Zuhörer sollten wir vielleicht deutlich machen, dass mit „KdU“ kein Sportverein, sondern „Kosten der Unterkunft“ gemeint sind.

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Natürlich. Entschuldigung.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Kurth.

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Ministerin, Sie haben gerade auf die Frage der Kollegin Britta Haßelmann, ob es nicht sinnvoll sei, hochpreisigere Gebrauchsgüter als Pauschalleistung zu bewilligen, geantwortet, das sei eine Abkehr vom Statistikmodell und eine Rückkehr zum Warenkorbmodell. Meiner Auffassung nach ist es eher eine Differenzierung des Statistikmodells, dass man bei umrissenen und genau bestimmbaren Einzelgruppen – hier handelt es sich im Wesentlichen ja um Kühlschränke und Herde, also um sogenannte weiße Ware – sehr wohl in sehr engem Rahmen entsprechend vorgehen kann, weil es ja erkennbar realitätsfremd ist, 3 Euro im Monat für den Kauf einer Waschmaschine anzusparen. Selbst wenn man ein Gebrauchtgerät kaufen möchte, müsste man dann drei oder vier Jahre lang sparen. Sie wollen die Unterdeckung über Darlehen kompensieren. Ist Ihnen bekannt, wie hoch der Verwaltungsaufwand für Darlehen ist, die Hartz-IV-Beziehende mit 5 Euro im Monat über viele Monate tilgen müssen? Steht dieser Verwaltungsaufwand nicht in einem großen Missverhältnis zu der ausgereichten Leistung? Wäre es nicht schon allein aufgrund dieses Verwaltungsaufwandes für die Darlehen angezeigt, eine klare Lösung im Sinne einer Pauschalierung zu finden?

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Mir liegen dazu keine Erkenntnisse vor. Es ist aber eine interessante Frage. Der gehe ich einmal nach.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Letzte Frage zu diesem Sachbereich von Kollegin Müller-Gemmeke. – Mir wurde ein weiterer Fragewunsch nicht signalisiert. (Zuruf) – Ach, Frau Kipping. Ich habe Sie anstelle vom Kollegen Wunderlich gestrichen. Aber Sie bekommen natürlich noch das Wort. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Sehen wir uns zum Verwechseln ähnlich?) – Offenkundig. (Heiterkeit – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Da muss ich erst mal drüber nachdenken!) Man braucht nur das drohende Ende einer Debatte anzukündigen – schon kommen die Wortmeldungen wie Pilze aus dem Boden geschossen. Bitte schön, Frau Müller-Gemmeke.

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank. – Ich muss auf die Ausführungen zurückkommen, die Sie auf meine letzte Frage hin gemacht haben; „Regelsätze für Kinder und Jugendliche“, „Malstifte“ waren die Stichworte. Diese Ausführungen haben mich sehr irritiert; denn es geht momentan bei der Regelsatzberechnung ganz klar darum, dass das Existenzminimum gesichert sein muss, und dazu gehört definitiv auch die gesellschaftliche Teilhabe. Das Bundesverfassungsgericht hat sehr eindeutig gesagt, dass bei der Berechnung das Lohnabstandsgebot – wie hoch ist der Regelsatz, und wie viel verdienen beispielsweise Niedrigverdienende in Deutschland? – überhaupt keine Rolle spielen darf. Trotzdem habe ich, wenn ich Sie so reden höre, das Gefühl, dass Sie die Menschen, die niedrige Einkommen beziehen, und die Menschen, die momentan keine Arbeit haben, also erwerbslos und auf Leistungen angewiesen sind, gegeneinander ausspielen. Sie müssten doch aber auf der einen Seite das Existenzminimum sichern und auf der anderen Seite genügend Maßnahmen auf den Weg bringen, dass die Menschen, die Arbeit haben, davon tatsächlich auch leben können. Gegeneinander ausspielen, das geht gar nicht.

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Ihnen ist bekannt, dass ich den Mindestlohn hier als Ministerin durchgesetzt habe – gegen nicht ganz unerhebliche Widerstände an einigen Stellen. Ich glaube, da brauche ich keine Aufklärung. Ich kann leider auch Ihre Irritation jetzt nicht auflösen.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das Lohnabstandsgebot?)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Kollege Zech

Tobias Zech (CDU/CSU): Herr Präsident! Frau Ministerin, wir erleben gerade, dass wir bei der Ermittlung von Regelsätzen eine sehr komplexe Vorgehensweise haben; bei jedem Komma neigt man zu Diskussionen. Könnten Sie uns – neben einzelnen Regelsätzen – vielleicht noch kurz erläutern, was sich durch den Entwurf noch verändert, welche Neuerungen Sie noch vorsehen? Vielen Dank.

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Wichtig scheint mir auch Folgendes zu sein: Bisher hatten wir die Situation, dass für Menschen mit Behinderungen, die meist bei ihren Eltern oder Verwandten leben, keine Gleichbehandlung vorgesehen war. Wir behandeln sie jetzt in den Regelbedarfsstufen gleich; sie werden wie alle anderen behandelt. Das, finde ich, ist ein wichtiger Schritt, der übrigens auch von vielen Behindertenverbänden und den Kirchen seit Jahren gefordert wurde. Wir hatten eine Übergangsregelung, und diese wird jetzt auf Dauer gelten. Darüber bin ich sehr froh. Das ist eine weitere Verbesserung im jetzigen Entwurf.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kipping.

Katja Kipping (DIE LINKE): Frau Nahles, Sie haben selber ausgeführt: Bei der Ermittlung der Hartz-IV-Regelsätze sind die Ausgaben der ärmeren Haushalte zugrunde gelegt worden. Diese Methode nennt sich „Statistikmodell“, und sie birgt eine Gefahr: Wenn den ärmeren Haushalten, also den ärmeren 15 Prozent, das Geld für wirklich wichtige Dinge fehlt, finden wir uns in einer Verarmungsspirale wieder, weil von deren Ausgaben die Regelsätze abgeleitet werden. Ich will das an zwei Beispielen aus der aktuellen Statistik illustrieren: Jugendliche über 15 Jahre haben nach dem Statistikmodell im Monat durchschnittlich 22 Cent für Bildungswesen ausgegeben – 22 Cent für Bildungswesen! Das ist doch ein Ausdruck dafür, dass den Familien das Geld fehlt, um ihren Kindern auch mal irgendeinen Kurs zu finanzieren. Erwachsene haben rund 26 Euro für die Benutzung von Bus und Bahn ausgegeben. In welcher Stadt kann man dafür, bitte schön, eine Monatskarte kaufen? Auch das ist ein Ausdruck dafür, dass Geld für Wichtiges fehlt. Vor diesem Hintergrund meine Frage: Wäre es nicht sinnvoll, das Statistikmodell wenigstens mit einer Art Bedarfs-TÜV zu kombinieren?

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Was Sie jetzt genau unter „Bedarfs-TÜV“ verstehen, kann ich nicht nachvollziehen. Ich möchte Ihnen allerdings sagen, dass ich die Verantwortung für bezahlbare Schülertickets – und solche Angebote halte ich für notwendig – nicht alleine auf der Bundesebene sehe. Ich habe mit großer Irritation gesehen, dass bezahlbare Sozialtickets und Schülertickets in den letzten Jahren nicht mehr so weit verbreitet waren wie zu meiner Schülerzeit. Ich kann und muss an dieser Stelle sehr deutlich dazu auffordern, dass man sich auf der kommunalen Ebene wieder verstärkt darum kümmert. Da müssen auch die Länder gegebenenfalls unterstützen. Wir können diese Hilfen für die Familien im unteren Einkommensbereich – genauso wie für diejenigen, die auf Unterstützung durch SGB II oder SGB XII angewiesen sind – zum Großteil auf der Bundesebene stemmen; da sehen wir uns auch voll in der Verantwortung. Aber es ist nicht allein unsere Aufgabe. Insoweit haben Sie an dem Punkt meiner Meinung nach ein indirektes Plädoyer für die Sozialtickets gehalten. Ansonsten werden wir uns heute, glaube ich, nicht mehr einig über die Grundlagen der Berechnung. Das heißt aber nicht, dass wir im Laufe der anstehenden parlamentarischen Beratungen nicht noch aufeinander zugehen können. – Vielen Dank.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Kollege Strengmann-Kuhn.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Vielen Dank für die Möglichkeit, noch einmal nachzufragen. – Vorgaben zur Bedarfsprüfung waren übrigens im letzten Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit enthalten; dabei sind die Mobilitätskosten und auch die Stromkosten explizit erwähnt worden. Das hätte man also eigentlich machen müssen. Aber ich wollte zu einem anderen Punkt noch einmal nachfragen, und zwar zu den Zirkelschlüssen. Sie haben eben selbst gesagt, dass eigentlich vermieden werden sollte, dass man die Berechnung der Regelsätze an Leuten orientiert, die selber Hartz IV beziehen. Die verdeckten Armen sind schon angesprochen worden. Auch als Wissenschaftler, der sich damit beschäftigt hat, würde ich sagen: Das, was Sie gesagt haben, stimmt nicht; man kann sie durchaus herausfiltern. Auch das, was Sie im Zusammenhang mit den Hartz-IV-Empfängern gesagt haben, ist nicht ganz richtig; denn es sind nicht alle Hartz-IV-Beziehenden herausgerechnet worden,

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Die Aufstocker nicht.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): – die sogenannten Aufstocker nicht. Zumindest diejenigen mit geringem Einkommen bis zu 100 Euro – die 100 Euro sind eigentlich nur dazu da, die Zusatzkosten für die Erwerbstätigkeit abzudecken – müsste man eigentlich herausrechnen. Ebenfalls nicht herausgerechnet sind Menschen, die BAföG-Leistungen, die in der Regel niedriger als Hartz-IV-Leistungen sind, beziehen. Das heißt, in der Referenzgruppe sind einige Gruppen,

– Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, Sie wollten eine Frage stellen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): – die auf Hartz-IV-Niveau sind oder sogar darunter liegende Einkommen haben. Das müsste man doch wenigstens beseitigen. Oder?

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Das haben wir jetzt nicht gemacht.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kipping noch einmal zur Verdeutlichung des inzwischen wahrgenommenen Unterschieds zum Kollegen Wunderlich.

Katja Kipping (DIE LINKE): Vielen Dank; ich bin ganz gerührt. – Frau Nahles, Sie haben angedeutet, dass man noch aufeinander zugehen kann. Ich will mal einen Paragrafen des Referentenentwurfes – den Kabinettsentwurf konnten wir noch nicht sehen –, nämlich § 9, herausgreifen. Dieser sieht vor, dass Kindern, die in der Schule ein Mittagsessen bekommen, und Menschen mit Behinderungen, die in Werkstätten arbeiten und in der Kantine ein Mittagessen bekommen, pro Essen vom ohnehin niedrigen Satz noch mal 1 Euro abgezogen wird. Das heißt doch, dass ein ohnehin niedriger Regelsatz im Monat zusätzlich um über 20 Euro gekürzt wird. Die Frage ist: Müssen Sie wirklich bei Menschen, die so wenig haben, so kleinlich sein, und kann dieser Paragraf nicht einfach herausfliegen aus diesem Gesetzentwurf?

Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Wir subventionieren sehr häufig Mittagessen, die dann teilweise kostenlos sind, mit öffentlichen Mitteln; das heißt, dieses Geld wird durch die Gemeinschaft der Beitragszahler und Steuerzahler gestellt. Von daher ist eine Doppelfinanzierung an dieser Stelle sicherlich auch fragwürdig. Natürlich können Sie an diesem Punkt auch Kleinlichkeit unterstellen. Ich muss aber ehrlich sagen: Systematisch ist das begründet. Aus meiner Sicht wäre eine doppelte Belastung derjenigen, die das mit niedrigem Einkommen finanzieren müssen, ebenfalls ein Problem. Von daher weiß ich nicht, ob wir an dem Punkt zusammenkommen können.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nun schließe ich die Fragen zu diesem heutigen Thema der Kabinettssitzung ab, mit Dank an die Ministerin.