Auswertung | 11.08.2015

Es fehlt das Interesse an den Ärmsten in unserer Gesellschaft

Antworten der Bundesregierung auf kleine Anfrage zur Wohnungslosenstatistik unbefriedigend

In Deutschland fehlt eine bundesweite Wohnungslosenstatistik

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Viele Kommunen tun es, Nordrhein-Westfalen tut es, viele europäische Nachbarstaaten tun es: Sie erstellen Statistiken über Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Wir wollten es genau wissen: Welche Statistiken gibt es und plant die Bundesregierung eine nationale Statistik? Die Antwort der Bundesregierung auf unsere kleine Anfrage ist peinlich. Sie verhält sich wie die berühmten drei Affen: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Welche Kommunen erheben Statistiken über Obdach- und Wohnungslosigkeit? Keine Ahnung. Wie viele Obdach- und Wohnungslose beziehen Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II („Hartz IV“) oder dem Sozialgesetzbuch XII (Sozialhilfe, Grundsicherung im Alter u.a.)? Keine Ahnung. Bei der Frage, ob es neben NRW noch in anderen Bundesländern oder in anderen Mitgliedsländern der EU Statistiken gibt, weiß die Bundesregierung nicht Bescheid und muss auf Nichtregierungsorganisationen verweisen. So seien nach Angaben der BAG Wohnungsloseninitiativen Statistiken in Baden-Württemberg und Bayern geplant, nach Angaben von FEANTSA, der europäischen Wohnungslosenhilfe (Fédération Européenne d'Associations Nationales Travaillant avec les Sans-Abri), gibt es nationale oder zumindest regionale Wohnungs- und Obdachlosenstatistiken in der Mehrheit der EU-Länder u.a. in Frankreich, Dänemark, Finnland, Irland, Italien oder Spanien. Genaueres weiß die Bundesregierung aber nicht.

In Deutschland gibt es keine nationale Statistik, obwohl die Bundesregierung selbst schreibt, dass „einheitliche Standards zur Gewährung der Vergleichbarkeit sinnvoll wären“. Bei Zahlen für die Bundesrepublik verweist die Bundesregierung erneut auf die BAG Wohnungslosenhilfe (BAG W), räumt aber zur Methodik ein, dass die BAG W „selbst Aktualisierungsbedarf im Hinblick auf die Erhebungsmethode“ sieht. Tätig werden will die Bundesregierung aber nicht. Das ist ebenso peinlich, wie die Antwort auf die Frage, ob der Bundesregierung sonstige Zahlen und Studien zur Situation der Wohnungslosen und Obdachlosen bekannt sind. Antwort: Damit beschäftige sich die Bundesregierung im Rahmen der Armuts- und Reichtumsberichterstattung und dann folgt der Link www.armuts-und-reichtsbericht.de. Doch auch in den bisherigen Armuts- und Reichtumsberichten sind Erkenntnisse zu Obdach- und Wohnungslosigkeit mangels Datenbasis kaum vorhanden. In diversen Gutachten für die Armuts- und Reichtumsberichterstattung finden sich hingegen Hinweise, dass eine nationale Statistik wünschenswert und notwendig wäre. Darüber hinaus gibt es natürlich auch in Deutschland Forschung zu Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit, von der die Bundesregierung offensichtlich keine Kenntnis hat und keine Kenntnis haben will.

Schon in diesem Frühjahr starteten wir einen Versuch die Sorgen und Nöte derer die unter Extremer Armut leiden, in den Fokus der Bundesregierung zu rücken. Mit unserer parlamentarischen Initiative „Bekämpfung von Obdachlosigkeit, gesundheitlicher Ungleichheit und extremer Armut in Deutschland“ in Form einer kleinen Anfrage (Drs.: 18/3940), wollten wir den Regierungsverantwortlichen auf den Zahn fühlen. Schon damals fielen die Antworten auf all unsere Fragen (insgesamt 48 an der Zahl) mager aus: keine Hindernisse und Probleme innerhalb des SGB bekannt, bundesweit nichts geplant und intendiert, keine Zuständigkeit des Bundes etc.

Doch dieses Mal hat das BMAS, welches hier als thematisch federführendes Ministerium die Antwort übernommen hat, den Vogel abgeschossen. Das uns vorliegende Dokument (Bundestagsdrucksache 18/5654) ist so einiges, aber ganz bestimmt keine Antwort auf unsere kleine Anfrage! Denn genau Antworten sind es die uns die Bundesregierung schuldig bleibt.

Nach Schätzungen der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) stieg die Zahl der Wohnungslosen zwischen 2010 und 2012 um 15 % auf nunmehr 285.000. Eine Trendwende sei nicht in Sicht. Im Gegenteil. Die BAG W geht sogar davon aus, dass die Zahl der Wohnungslosen im Jahr 2016 auf ca. 380.000 ansteigen wird. Der Anteil derer die dauerhaft ohne ein Dach über dem Kopf leben müssen, also obdachlos sind, liegt bei etwa 10% der Wohnungslosen. Diese Zahlen sind erschreckend und dementsprechend fordern wir gemeinsam mit der BAG W eine nationale Strategie gegen Wohnungsnot und soziale Ausgrenzung. Daher ist es auch dringend geboten diese Zahlen endlich zu untermauern: Mittels bundesweiter Statistik. Das Bundesland Nordrhein-Westfalen hat es ja wie bereits erwähnt schon vorgemacht. Und obwohl Bayern und Baden-Württemberg eine eigene Statistik für ihr jeweiliges Bundesland erwägen, sind wir davon überzeugt, dass eine bundesweite statistische Datenerhebung der erste wichtige Schritt ist.

Warum?

Wenn man zielführend und effektiv etwas gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit tun möchte, muss man mehr darüber wissen, wer wo betroffen ist und warum. Wir brauchen dringend ein Mehr an Forschung, gerade in Bereichen die extreme Armut betreffen. Hier ist dringender Handlungsbedarf geboten. Die Bundesregierung verschließt hier jedoch erneut und fortwährend die Augen wenn sie schreibt: „Aufgrund der den Ländern bzw. Kommunen obliegenden Zuständigkeit für die Betreuung und Unterbringung von Wohnungs- und Obdachlosen sowie für die soziale Wohnraumförderung läge es nach Auffassung der Bundesregierung vielmehr nahe, Erhebungen und Analysen zur Wohnungs- und Obdachlosigkeit auf kommunaler und Landesebene durchzuführen, wobei einheitliche Standards zur Gewährleistung der Vergleichbarkeit sinnvoll wären. Die Definition dieser Standards obläge allerdings nicht dem Bund, sondern den zuständigen Gebietskörperschaften“. 
Kann ernsthaft angenommen werden, dass die bundesweit zahlreichen Gebietskörperschaften, weil dies die Bundesregierung sinnvoll findet, „einheitliche Standards“ erarbeiten werden? Wohl kaum. Dennoch teilt die Bundesregierung unsere Auffassung nicht wonach eine bundeseinheitliche Wohnungsnotfallstatistik die entscheidende Voraussetzung für die wirkungsvolle Umsetzung künftiger Maßnahmen gegen Obdach- und Wohnungslosigkeit darstellt.

Sie möchte auch nicht handelnd tätig werden indem sie:

  • eine aktualisierte Machbarkeitsstudie plant
  • Nordrhein-Westfalen als beispielgebend für eine bundesweite Statistik heranzieht
  • Vorgaben und Strategien für eine einheitliche bundesweite statistische Datenerhebung erarbeitet

Darüber hinaus hat sie keine Erkenntnisse dahingehend:

  • wie viele Empfängerinnen und Empfänger von SGB-II-Leistungen bei den Jobcentern als wohnungs- oder obdachlos bzw. in ordnungs- oder sozialrechtlichen Unterbringungen registriert sind
  • wie viele Empfängerinnen und Empfänger von Leistungen der Sozialämter nach SGB XII wohnungs- oder obdachlos sind
  • wie viele Übernachtungen in Notunterkünften in Deutschland jährlich seit dem Jahr 2010 verzeichnet wurden
  • welche Zahlen über die Fälle drohender Wohnungslosigkeit, die den Sozialämtern, Ordnungsbehörden oder Jobcentern gemeldet wurden, vorliegen

Bittet man die Bundesregierung um eine Stellungnahme hinsichtlich ihrer Verantwortung als Bundesgesetzgeberin, so verweist sie stets auf die Antworten zu den Fragen 1 und 4 unserer kleinen Anfrage: nicht zuständig.

Dabei liefert sich die Bundesregierung in der Beantwortung der Frage 16 die Begründung für bundesweite Vorgaben selber:

 „Da – mit Ausnahme von Nordrhein-Westfalen – keine landesweite gesetzliche Grundlage für eine Wohnungsnotfallberichterstattung besteht, hat dies zur Folge, dass die Kommunen unterschiedliche oder im Zweifelsfall gar keine Daten zu Wohnungsnotfällen erheben […]“

Gleichzeitig gibt die BR zu, dass sich zur Erklärung eines Anstiegs der Obdachlosen- und Wohnungslosenzahlen seit dem Jahr 2010 keine Aussagen über Wirkungszusammenhänge (hinsichtlich der Ursachen von Wohnungslosigkeit) machen lassen. Zur Bekämpfung der angespannten Wohnsituation vieler einkommensschwacher Haushalte bringt sie lediglich die Wohngeldreform und das gestiegene Wohngeld zur Sprache. Dass hiervon Wohnungslose nicht profitieren bleibt hier ungesagt.

FAZIT:

Die Bundesregierung sieht zu unserem Entsetzen leider nicht den geringsten Handlungsbedarf. Auch hat sie keinerlei Interesse sich in der Rolle des Gesetzgebers zu begreifen und für die Ärmsten der Armen in unserer Gesellschaft eine nationale Strategie, geschweige denn eine bundesweite Statistik ins Leben zu rufen. Sie ignoriert die Forderungen und Verbesserungsvorschläge der Verbände und verweist immer wieder auf die Länder und Kommunen.

Dies verdeutlicht einmal mehr die Konzept- und Orientierungslosigkeit der Bundesregierung – und der SPD, die übrigens in der Opposition noch eine nationale Wohnungs- und Obdachlosigkeitsstatistik gefordert hat. Jetzt sind ausgerechnet zwei der SPD geführten Ministerien dafür zuständig: das Bauministerium und das  BMAS. Schlimmer noch: diese Antwort impliziert ein grundsätzliches Desinteresse sich der Wohnungs- und Obdachlosen anzunehmen. Dies ist ein Armutszeugnis sondergleichen, obliegt der Bundesregierung doch sehr wohl die Bekämpfung und Vermeidung von Armut deutschlandweit, sowie die Bundessozialgesetzgebung.

Wir Grüne fordern schon seit langem eine bundesweite Statistik zur Erfassung von Wohnungs- und Obdachlosen. Wir brauchen sie sehr dringend, denn eine zielgenaue Bekämpfung ist nur mit einer entsprechenden Datenlage möglich.

Ergänzende Informationen:

Antwort der Bundesregierung auf unsere kleine Anfrage: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/056/1805654.pdf

Artikel dazu auf zeit.de:  http://www.zeit.de/gesellschaft/2015-07/obdachlose-keine-statistik

Artikel dazu auf aktuelle-sozialpolitik.de: www.aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2015/07/die-zahl-der-rindviecher-geht-die-der.html

Pressemitteilung der BAG Wohnungshilfe dazu: http://www.bagw.de/de/presse/index~112.html

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