30.10.2018

Das gesellschaftliche Ausmaß von Obdach- und Wohnungslosigkeit

Das Bild von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Deutschland hat sich in den letzten Jahren gravierend verändert. Die Wohnungslosigkeit oder der drohende Verlust der eigenen Wohnung scheint in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe e. V. nehme die Wohnungs- und Obdachlosigkeit kontinuierlich zu. Außerdem weitet sie sich auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen aus. Immer mehr Frauen, Jugendliche und EU-Bürgerinnen und EU-Bürger sind betroffen. Sie ist daher längst kein Randproblem mehr.

In unserer kleinen Anfrage fühlten wir der Bundesregierung zum gesellschaftlichen Ausmaß  von Wohnungs- und Obdachlosigkeit auf den Zahn.

Hier geht es zu den Antworten: http://dserver.bundestag.btg/btd/19/052/1905288.pdf 

Dazu gab es zudem eine Berichterstattung in der Passauer Neuen Presse vom 29.10.2018: https://www.strengmann-kuhn.de/presse/medienresonanz/medienresonanz-2018/regierung-tut-zu-wenig-gegen-obdachlosigkeit.html 

Auswertung der kleinen Anfrage (Drs. 19/5288) „Das gesellschaftliche Ausmaß von Obdach- und Wohnungslosigkeit“

Obdach- und Wohnungslosigkeit ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen – Diese Auffassung teilt die Bundesregierung nicht! Wie Nicht- Hinschauen ein weiteres Nicht-Handeln legitimiert.

Die Auswertung als PDF: 181216_Auswertung_kA_Ausmaß_Obdach-Wohnungslosigkeit.PDF

Die Bundesregierung ist ahnungslos über das Ausmaß der Wohnungs- und Obdachlosigkeit in unserem Land. In der steigenden Zahl der Wohnungslosigkeit keinen Handlungsbedarf zu sehen, ist schlicht unfassbar. Es ist für alle diejenigen, die zurzeit keine eigene Wohnung haben oder sogar auf der Straße leben, ein Schlag ins Gesicht.

Die Bundesregierung hat offenbar kein Interesse daran, Betroffenen ohne Wohnung zu helfen und versteckt sich hinter Phrasen. Das ist der eigentliche Skandal. Die Bundesregierung muss endlich begreifen, dass Wohnungslosigkeit kein individuelles Randproblem ist. Es betrifft immer mehr Menschen, vor allem Kinder. Die erste Notunterkunft ausschließlich für Mütter und Väter mit Kindern, die kürzlich in Berlin aufgemacht wurde, ist hierfür ein trauriger Fakt. Wir brauchen wieder mehr Investitionen in den sozialen Wohnungsbau, eine Neue Wohngemeinnützigkeit und gut ausgestattete Anlaufstellen für Betroffene, damit dieser Trend endlich gestoppt werden kann!

Seit Jahren schon fordern wir Grüne eine bundesweite Wohnungs- und Obdachlosenstatistik, um das tatsächliche Ausmaß von Obdach- und Wohnungslosigkeit beziffern zu können. Ebenfalls seit Jahren, redet die Bundesregierung das Ausmaß der Betroffenen klein und legitimiert so vor sich selbst, dass kein Handlungsbedarf bestünde. Wir haben mal wieder nachgefragt. Diesmal wollten wir auch genaueres über besondere Personengruppen, wie Alleinerziehende und Familien wissen, oder aber EU-Bürger*innen. Aus den Kommunen ereilen uns in der jüngeren Vergangenheit immer wieder Anfragen, Hinweise, gar Hilferufe über die teils unhaltbaren Zustände wohnungs- und obdachloser Menschen. Die Implementierung solch einer Statistik scheint trotz allem immer noch als nicht notwendig erachtet zu werden, dabei ist sie nur der Startpunkt für einen wirkungsvollen nationalen Rahmenplan zur langfristigen Bekämpfung und Vermeidung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit.

Hintergrund und Antwort der Bundesregierung

In Deutschland gibt es keine nationale Statistik. Immer noch nicht. Dabei prognostiziert die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG-W) bereits seit vielen Jahren einen dramatischen Anstieg. Auf diese Zahlen nimmt die Bundesregierung zwar gerne Bezug, um im selben Atemzug auf die „mit großen Unsicherheiten behafteten“ Zahlen (Vorbemerkung, S.2) hinzuweisen. Ein befremdlicher Widerspruch, der in etwa so zu interpretieren ist: Statistik? – Brauchen wir nicht, wir haben ja die Zahlen der BAG-W. Beziehen wir uns argumentativ auf diese Schätzungen, verweist die Bundesregierung auf deren Ungenauigkeit. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz.

Warum eine Statistik so wichtig ist, verdeutlichen die einzelnen Antworten dann aber doch mit Nachdruck: Wie lange dauert Wohnungslosigkeit an? – Keine Kenntnisse. Wie ist diese regional verteilt? – Blättern Sie doch mal nach in der Wohnungsnotfallstatistik in NRW. Wie werden die Menschen (bedarfsgerecht) untergebracht? – Fragen Sie die Kommunen. Welche Erkenntnisse gibt es bezüglich der Verfügbarkeit von Notunterkünften? – Leider keine Erkenntnisse.

Immerhin beobachtet das zuständige BMAS mit Sorge den starken Anstieg der Wohnungslosen in Nordrhein-Westfalen. Von 2015 auf 2016 war demnach ein Anstieg um knapp 19% und von 2016 auf 2017 einer um knapp 29% zu verzeichnen. Insbesondere bei den jungen Menschen sei dort ein „signifikanter“ Anstieg zu beobachten (+4,1% in 2016, +5,8% in 2107). Eine Übertragbarkeit auf das gesamte Bundesgebiet will man jedoch lieber nicht wagen. Nachvollziehbar, denn sonst müsste die Bundesregierung ja anerkennen, dass das beschriebene Problem doch kein Randphänomen darstellt, sondern Handlungsbedarf dringend von Nöten ist.

Ein Schmücken mit der sozialen Wohnraumförderung 2018-2021 hilft nicht den Menschen, die dringend eine Wohnung suchen. Das Schaffen von 100.000 zusätzlichen Wohnungen innerhalb von 4 Jahren ist angesichts der 2-3 Fachen Zahl an Wohnungen, die aus der Bindung fallen werden, Augenwischerei.

Besonders skandalös fällt die Antwort auf Nachfrage zur Entwicklung bei wohnungslosen EU-Bürger*innen aus unserer Sicht aus. Hier stellt sie fest, dass laut Schätzungen der BAG W „zunehmend ausländische EU-Bürgerinnen und EU-Bürger von Straßenobdachlosigkeit betroffen“ seien (S.4). Dies lässt sie unkommentiert stehen und verweist im weiteren Verlauf lediglich auf die Verantwortung der EU: „Die die Bundesregierung tragenden Parteien haben im Koalitionsvertrag verabredet, einen Rahmen für Mindestlohnregelungen sowie für nationale Grundsicherungssysteme in den EU-Staaten zu entwickeln. Dies ist ein Beitrag zur Bekämpfung der Ursachen und Folgen europäischer Armutszuwanderung.“ Schön und Gut. Selbstverständlich braucht es europaweite Standards bei nationalen sozialstaatlichen Leistungen und eine Angleichung der Sicherungssysteme innerhalb der EU. Doch hierzu ist bisher noch nichts geschehen und die Pläne sind vage, wie aus den Antworten zur kleinen Anfrage „Umsetzung des Koalitionsvertrages zur europäischen Sozialpolitik“ Drs. 19/3290 deutlich wird. Gute Absichten reichen nicht und entlassen die Bundesregierung darüber hinaus nicht aus ihrer Verantwortung alles daran zu setzen, all jenen Menschen die hier leben, das Recht auf Wohnen zu realisieren. Kein obdachloser Mensch im Rollstuhl darf morgens mal eben schnell vor die Notunterkunft geschoben werden, a lá „tut uns leid – wir können nicht mehr für Sie tun.“ Das ist würdelos. Das darf niemandem passieren – völlig egal ob deutsche Staatsangehörigkeit oder eine andere. Die Bundesregierung lässt die Menschen und auch die Helfer*innen in den Kommunen völlig alleine.

Immerhin will die Bundesregierung fortan stärker zum Thema forschen und dem Thema auf diesem Wege ein stärkeres Gewicht beimessen. Auf Grundlage jener breiteren Wissensbasis könne geprüft werden inwiefern Handlungsbedarf von aufseiten der Bundesregierung bestünde (Antwort auf die Fragen 4-6). Immerhin. Für das Frühjahr 2019 rechnet das BMAS mit den Ergebnissen aus einem Forschungsauftrag der an die Gesellschaft für innovative Sozialforschung Sozialplanung (GISS e.V. – Titel: „Entstehung, Verlauf und Struktur von Wohnungslosigkeit und Strategien ihrer Vermeidung und Behebung“) ging. Allerdings, so schreibt die Bundesregierung weiter hinten, sei schon jetzt „davon auszugehen, dass die Zuständigkeitsbereiche der Länder bzw. Kommunen umfassend betroffen sein werden“ (Antwort auf Frage 19).

Für uns ist zentral, dass der Bund den Rahmen vorgibt, gezielt Länder und Kommunen bei der Vermeidung und Bekämpfung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit aktiv unterstützt – finanziell und auch gesetzgeberisch. Es muss endlich Schluss sein mit der Verschiebung der Verantwortung hin zu den Ländern und Kommunen. Leider deutet die Antwort der Bundesregierung mal wieder in genau diese Richtung. Wir sagen: Als ersten Schritt braucht es die bundesweite Statistik zur Erfassung von Wohnungslosigkeit. Aber auch das kann nur der erste Schritt sein. 

FAZIT:
Leider sieht es immer noch nicht danach aus, als würde die Bundesregierung die Wohnungs- und Obdachlosigkeit mehr als nur stiefmütterlich behandeln. Ohne Erkenntnisse gibt es scheinbar keinen Handlungsbedarf. Der Wunsch nach Erkenntnis ist allerdings auch nur bedingt vorhanden. Wir sagen: Eine bundesweite Wohnungslosenstatistik braucht es sofort. Auf dieser statistischen Grundlage muss ein nationales Reformprogramm auf den Weg gebracht werden, das die Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen besser regelt und in dessen Rahmen es möglich sein muss, dass der Bund die Länder und Kommunen bei der Bekämpfung und Vermeidung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit gezielt und nachhaltig unterstützt. Darüber hinaus prüfen wir weitere Handlungsoptionen des Bundes (durch bspw. Änderungen des bestehenden Mietrechts oder aber die Quotierung für Sozialwohnungen bei Neubau) sowie die bessere Durchsetzung bereits bestehender gesetzlicher Vorgaben. Außerdem wollen wir innovative Ansätze wie jenen des „Housing First“ deutschlandweit voranbringen und unterstützen.

Das Ausmaß der Obdachlosigkeit hat eine Grenze überschritten, die nicht länger zu akzeptieren ist. Ziel muss es sein – ähnlich wie in Großbritannien – Obdachlosigkeit ganz zu beseitigen. Wohnungslosigkeit ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Auch hier haben wir gezielte Vorschläge entwickelt. Dazu gehören die Wiedereinführung der Wohnungsgemeinnützigkeit sowie die Anpassung des Mietrechts. Die Grüne Bundestagsfraktion hat hierzu ein Konzept erarbeitet. Darüber hinaus kann mittels eines deutlich größeren Angebotes an dauerhaft günstigen Mietwohnungen für eine nachhaltig bessere Wohnraumversorgung gesorgt werden. Auch unser Zehn-Punkte-Plan für ein besseres Mietrecht hält Antworten parat um der um sich greifenden Wohnungslosigkeit Einhalt zu gebieten. Wohnen ist ein Menschenrecht. Armut in dem heutigen Ausmaß, ist für Deutschland – eines der reichsten Länder der Welt – absolut inakzeptabel

Ergänzende Informationen:

Unsere Kleine Anfrage „Das gesellschaftliche Ausmaß von Obdach- und Wohnungslosigkeit“ (Drs. 19/5288), einschließlich der Antworten finden sich HIER.

Unser Antrag „Wohnungslosigkeit wirkungsvoll angehen – Bundesweite Statistik einführen“ (Drs. 18/7547), aus der letzten Wahlperiode findet sich HIER.

Außerdem: haben wir am 07.11.2018 ein öffentliches Fachgespräch zum Thema „Handeln statt Wegsehen: Bundespolitische Antworten und Wohnungs- und Obdachlosigkeit“ durchgeführt. Der Tagungsbericht findet sich HIER.