30.04.2015

Der Mindestlohn ist nicht genug

Mehr als drei Millionen Menschen in Deutschland sind erwerbstätig und haben trotzdem ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze. 1,2 Millionen Erwerbstätige stocken ihre Arbeitseinkommen sogar durch Hartz-IV-Leistungen auf. Werden die Familienangehörigen mit hinzugezählt, leben insgesamt über 2,5 Millionen Menschen von Hartz IV, obwohl mindestens eine Person im Haushalt erwerbstätig ist. Und dabei sind die Erwerbstätigen noch nicht eingerechnet, die zwar einen Anspruch auf Hartz IV hätten, diesen jedoch nicht wahrnehmen. Sei es, weil sie nicht wissen, dass sie einen Anspruch hätten, oder weil sie sich der Bürokratie und oft auch Willkür der Jobcenter nicht aussetzen wollen.

Seit Anfang des Jahres gibt es einen Mindestlohn, der das Ziel hat, dass jemand, der in Vollzeit erwerbstätig ist, davon auch leben kann. Das ist gut und richtig. Nur, den meisten von Armut betroffenen Erwerbstätigen nützt der Mindestlohn nichts. Denn er schützt nur vor Armut, wenn gleichzeitig drei Bedingungen erfüllt sind: Es muss sich um eine abhängige Beschäftigung handeln, es muss eine Vollzeittätigkeit sein und es darf keine weiteren Mitglieder im Haushalt geben, die mitversorgt werden müssen. Diese Bedingungen erfüllen nur zehn Prozent der Erwerbstätigen, die gleichzeitig Hartz-IV-Leistungen beziehen (sogenannte „Aufstocker“). Die überwiegende Mehrheit der erwerbstätigen Armen ist trotz Mindestlohn auch weiterhin auf aufstockende Hartz IV-Leistungen angewiesen.

So wird die zunehmende Zahl von Selbständigen, die ein Einkommen unterhalb des Existenzminimums beziehen, nicht von dem Mindestlohn erreicht. Denn dieser greift nur bei abhängig Beschäftigten. Zudem wird auch der große Teil der armen Erwerbstätigen mit Kindern nicht erreicht. Sie sind oftmals nur deshalb arm, weil sie Kinder haben. Bei fast der Hälfte der Kinder, die Hartz IV beziehen, ist mindestens ein Elternteil erwerbstätig, oftmals sogar in Vollzeit. Selbst für Vollzeiterwerbstätige reicht der Mindestlohn nur für sie selbst. Er reicht jedoch nicht, wenn Kinder mitversorgt werden müssen. Armut trotz Erwerbstätigkeit und Kinderarmut sind auf diese Weise eng miteinander verbunden. Hinzu kommt, dass der Mindestlohn nicht einmal für den Erwerbstätigen selbst reicht, wenn dieser nicht Vollzeit arbeitet. Jedoch sollte sich auch eine reguläre, sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung lohnen. Wer mehr als geringfügig beschäftigt ist, sollte nicht auf Hartz IV angewiesen sein.

Kinder dürfen nicht zu Armut führen

Erwerbstätige mit kleinen und zur Existenzsicherung nicht ausreichenden Einkommen haben Anspruch auf aufstockendes Hartz IV. Dieses wird jedoch oftmals nicht beantragt, und das ist auch nur zu verständlich. Denn Hartz IV ist gar nicht auf die Bedarfe von Erwerbstätigen ausgerichtet, sondern auf die von Arbeitslosen. Dabei müssen Erwerbstätige nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden, denn sie sind ja schon erwerbstätig. Trotzdem werden sie durch ausufernde Prüfungen und Kontrollen seitens der Jobcenter unnötig mit Bürokratie überfrachtet.

Ziel sollte es deswegen sein, mehr als geringfügig Erwerbstätige ganz aus Hartz IV herauszuholen. Ihr Lebensunterhalt sollte auf andere und für sie unbürokratischere Weise gesichert werden. Wir brauchen eine neue, den Mindestlohn ergänzende Politik gegen die Armut von Erwerbstätigen. Kleine Erwerbseinkommen sollten in neuer Weise mit einem das Existenzminimum garantierenden Transfereinkommen ergänzt werden.

Dazu muss zum einen sichergestellt werden, dass Kinder nicht zu Armut führen. Wenn Eltern so viel verdienen, dass es für sie selbst reicht, sollten sie nicht nur auf Grund ihrer Kinder auf Hartz IV angewiesen sein. Die eigentlich dafür vorgesehene Leistung, der Kinderzuschlag, erreicht sein Ziel nicht. So werden 87 Prozent der Anträge abgelehnt, und trotzdem beziehen nur rund ein Drittel der eigentlich Berechtigten diese Leistung. Dies zeigt: Viel bürokratischer Aufwand, und doch wird Kinder- und Elternarmut nur sehr lückenhaft vermindert.

Aus diesem Grund sollte der Kinderzuschlag durch eine Leistung ersetzt werden, die für alle Kinder unbürokratisch das Existenzminimum sichert. Dazu muss der Familienleistungsausgleich zu einer allgemeinen Kindergrundsicherung weiterentwickelt werden. Zumindest sollten in einem ersten Schritt Familien mit kleinen Einkommen ein existenzsicherndes Kindergeld erhalten.

Auch das Existenzminimum von kinderlosen Selbständigen und mehr als geringfügig beschäftigten Teilzeiterwerbstätigen sollte außerhalb von Hartz IV abgesichert werden. Das Einfachste ist eine Lösung über das Finanzamt. Eine zusätzliche Bedürftigkeitsprüfung ist dann nicht mehr notwendig. Wer erwerbstätig ist und nur ein geringes oder kleines Einkommen bezieht, erhält eine Zahlung vom Finanzamt. Dieser Einkommenszuschlag deckt das Existenzminimum ab. Damit sich zusätzliche Erwerbstätigkeit lohnt, wird eigenes Einkommen nur zum Teil angerechnet. Dadurch werden auch die Einkommensgruppen, die etwas über dem Grundsicherungsniveau liegen, finanziell entlastet.

Diese beiden Maßnahmen zusammen, ein garantiertes Existenzminimum für Kinder und ein Einkommenszuschlag für Erwerbstätige, verstärken sich als Mittel gegen Armut gegenseitig. Zusammen mit einem regelmäßig angepassten Mindestlohn würden sie dafür sorgen, dass nicht nur Armut trotz Erwerbstätigkeit in Deutschland erheblich reduziert würde, sondern auch Kinderarmut.

Der Gastbeitrag erschien am 30.4. in der Frankfurter Rundschau, siehe hier.