Zu den Schlussanträgen beim Europäischen Gerichtshof zum Zugang zu Leistungen der Lebensunterhaltssicherung erklären Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Sprecher für Sozialpolitik, und Volker Beck, Sprecher für Innenpolitik:
Die Bundesregierung muss zur Sacharbeit zurückkehren und den schädlichen Populismus aus den Reihen der CDU/CSU beenden. Der Generalanwalt tritt den geschürten Ängsten klar entgegen: es droht keine massive Zuwanderung in die Sozialsysteme. Jetzt gilt es, die Schlussanträge des Generalanwalts ernst zu nehmen und das Sozialgesetzbuch II auf EU-Tauglichkeit zu überarbeiten.
Die deutsche Rechtspraxis muss verbessert werden. Wir brauchen eine Regelung, die arbeitsuchende Unionsbürgerinnen und -bürger nicht mehr wie bisher pauschal von Leistungen nach dem SGB II ausschließt. Der Generalanwalt stellt klar, dass grundsätzlich ein Ausschluss von Leistungen für diejenigen, die mit dem Ziel einreisen, “in den Genuss dieser Maßnahme zu kommen oder eine Beschäftigung zu suchen”, mit dem EU-Recht vereinbar sei. Die von ihm geforderte Einzelfallprüfung muss aber endlich im Gesetz verankert werden.
Menschen, deren Kenntnisse und Fähigkeiten grundsätzlich auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland gefragt sind, haben bei der beruflichen Eingliederung besonderen Unterstützungsbedarf, beispielsweise bei Sprachkursen. Deutschland ist gut beraten, als Einwanderungsland mit Fachkräftemängel Mittel zur beruflichen Eingliederung bereitzustellen. Unionsbürgerinnen und -bürger müssen endlich Zugang zu den aktiven Leistungen der Arbeitsförderung – auch nach dem SGB II – erhalten.
Unionsbürgerinnen und -bürger, die nach langem (Vor-)Aufenthalt in Deutschland unverschuldet soziahilfebedürftig werden, sollen einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII erhalten. Bislang haben Familienangehörige von erwerbstätigen UnionsbürgerInnen, die selbst keine Erwerbstätigkeit in Deutschland ausgeübt haben, nach einer Scheidung oder dem Tod des Partners keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII. Das ist zutiefst ungerecht, wenn diese Menschen zuvor eine längere Zeit in Deutschland gelebt und ihren Lebensunterhalt gesichert haben.
Wir brauchen eine Härtefallregelung für besonders gelagerte Einzelfälle. Dies entspricht der Rechtsauffassung der EU-Kommission, dass ein pauschaler Leistungsausschluss ohne Möglichkeit der Einzelfallprüfung europarechtswidrig ist. Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum BaföG deutet in diese Richtung.
Wir brauchen eine gesetzliche Regelung, wie – im Sinne der Einzefallgerechtigkeit aber auch unbürokratisch – geprüft werden kann, ob die Arbeitsuche von Unionsbürgerinnen und -bürgern “erfolgsversprechend” ist.
Das muss dann zum Leistungsanspruch führen. Diesbezügliche Erfahrungen in anderen europäischen Ländern sollten evaluiert werden (best practice).
Wir fordern die Bundesregierung dazu auf, sich auf europäischer Ebene für die Einführung von sozialen Mindeststandards und die Einführung von Grundsicherungsleistungen in allen Ländern einzusetzen.