Rede vom 13.12.2019
135. Sitzung des Deutschen Bundestages
Tagesordnungspunkt 29: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Wohnungslosenberichterstattung sowie einer Statistik untergebrachter wohnungsloser Personen
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat gestern seinen neuen Armutsbericht vorgelegt. Danach leben über 15 Prozent der Menschen in Deutschland in einem Haushalt mit einem Einkommen unter der Armutsgrenze.
(Kai Whittaker (CDU/CSU): Unter der Armutsgefährdungsgrenze! - Ulli Nissen (SPD): Auch im Westen deutlich verschlechtert!)
15 Prozent der Bevölkerung! Das sind 12 Millionen Menschen, 12 Millionen Menschen bei uns im Land. Auf diesem Rekordniveau befinden sich die Armutszahlen seit ungefähr zehn Jahren, und wir müssen endlich dafür sorgen, dass wir weniger Arme in Deutschland haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Wir haben uns sogar bei den SDGs dazu verpflichtet, bis 2030 die Zahl der Armen zu halbieren, und es wird Zeit, dass die Bundesregierung damit endlich loslegt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
In diesen Zahlen sind die Wohnungslosen noch gar nicht enthalten, weil sie sich auf Befragungen von privaten Haushalten beziehen, die eine Wohnung haben. Das heißt, die Hunderttausenden Wohnungslosen kommen da noch obendrauf, und am schlimmsten sind natürlich die dran, Zigtausende Menschen in Deutschland, die auf der Straße leben müssen. Das muss man sich vergegenwärtigen: Zigtausende Menschen leben in Deutschland auf der Straße. Das ist in der Tat beschämend und eine Schande.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Die Gesellschaft und die Politik schauen weitgehend weg. Wir verdrängen das Problem häufig. Damit muss Schluss sein. Eine Möglichkeit, das Problem öffentlich sichtbarer zu machen, ist eine amtliche Statistik. Deswegen fordern wir Grünen das schon seit Jahren, nein, seit Jahrzehnten. Der erste Antrag der Grünen-Bundestagsfraktion, den ich dazu gefunden habe, war von 1995. Wir haben das also schon vor über 20 Jahren gefordert und in den letzten Jahren immer wieder. Es ist wirklich interessant, dass es dazu keine Statistik gibt, wo wir doch alles statistisch erfassen. Aber interessanterweise haben wir keine Statistik über extremen Reichtum, und wir haben keine Statistik über extreme Armut. Beides müssen wir endlich offenlegen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Insofern ist es gut, dass die Bundesregierung endlich - endlich nach so vielen Jahren - einen Gesetzentwurf vorlegt und wir einen ersten Schritt in die richtige Richtung gehen. Aber es ist nur ein erster Schritt; denn es werden nicht alle Gruppen erfasst. Es werden nur diejenigen erfasst, die öffentlich untergebracht worden sind. Die Couch-Surfer sind eben nicht mit dabei. Es sind auch die Leute, die bei Familienangehörigen, bei Verwandten unterkommen, nicht dabei, und es sind die, die auf der Straße leben, nicht statistisch erfasst. Okay, das ist schwierig. Aber ich glaube, unser Anspruch muss sein, wirklich alle Wohnungslosen statistisch zu erfassen, um eine gute Grundlage zu haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir müssen auch diejenigen erfassen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind, um präventiv agieren zu können. Das Wichtigste ist tatsächlich: Wir brauchen politische Maßnahmen. Der Bund darf nicht länger die Verantwortung von sich schieben und sagen: Dafür sind doch die Kommunen und Länder zuständig.
(Ulli Nissen (SPD): Die auch!)
Nein, wir sind hier zuständig, wir als Parlament, die Regierung auch. Wir brauchen einen nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gemeinsam mit den Länder und den Kommunen, damit Wohnungslosigkeit verhindert wird und niemand in Deutschland mehr auf der Straße leben muss.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)