24.10.2019

Wie kann man Menschen mit unteren Einkommen entlasten?

121. Sitzung des Deutschen Bundestages
Donnerstag, den 25.10.2019 

Tagesordnungpunkt: Antrag der Fraktion FDP "Chancentarif statt Belastungstarif – Abschmelzen des Mittelstandsbauches" Drucksachen 19/7697

Protokoll der Rede

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Kemmerich hat eben gesagt: Bei der Steuerbelastung wäre Deutschland im internationalen Vergleich an der Spitze. - Das Gegenteil ist der Fall.(Lachen bei der FDP)

Wenn man sich OECD-Vergleiche anguckt, stellt man fest: Wir sind, was die Steuerquote in Deutschland angeht, ganz weit unten. 
(Sebastian Brehm (CDU/CSU): Ganz oben sind wir bei der OECD! - Thomas L. Kemmerich (FDP): Welche Statistik? Die müssen Sie umdrehen!) 

Die Steuerbelastung ist in Deutschland relativ gering. Das sind die Fakten. 
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Thomas L. Kemmerich (FDP): Das Blatt andersherum drehen!))

Gucken Sie sich die OECD-Statistiken an. 
(Thomas L. Kemmerich (FDP): Sie malen sich die Welt, wie Sie Ihnen gefällt!)

- Hören Sie doch mal zu. 

In Deutschland ist das Problem, dass, wenn man Steuern und Sozialversicherungsabgaben zusammenzählt, wir, was die Belastung der unteren und mittleren Einkommen angeht, an der Spitze sind. Das heißt, untere und mittlere Einkommen zu entlasten, ist das richtige Ziel. 
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber die Steuer ist da der falsche Hebel, zumindest so, wie Sie das machen. 
Es ist ja interessant: Es gibt verschiedene Anträge der FDP zur Einkommensteuer. Vor ein paar Wochen haben wir über Familienleistungen diskutiert, gerade eben über den Solidaritätszuschlag; jetzt diskutieren wir über den Mittelstandsbauch. Alle Vorschläge der FDP haben an einem Punkt eine Gemeinsamkeit: Die Leute, die so viel verdienen wie Bundestagsabgeordnete oder noch mehr, zahlen weniger Steuern.  Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann doch nicht sein, dass die Reichen immer weniger Steuern zahlen. (Sebastian Brehm (CDU/CSU): Das stimmt doch nicht!)

Das ist das Ziel der FDP, und das ist nicht der Weg, den wir Grüne wählen. 
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN - Dr. Stefan Ruppert (FDP): Das ist wirklich sachwidriger Quatsch! Das ist wirklich falsch! - Thomas L. Kemmerich (FDP): Haben Sie unseren Antrag auch mal gelesen? - Sebastian Brehm (CDU/CSU): Das ist Sozialismus!)

Rechnen Sie doch mal Ihre Anträge durch. Wir als Abgeordnete zahlen bei all Ihren Anträgen weniger Steuern. 
(Dr. Stefan Ruppert (FDP): Es ist sachlich falsch, was Sie sagen!)

Sie wollen auch die unteren Einkommen entlasten. 
(Thomas L. Kemmerich (FDP): Das steht im Antrag!)

Aber so wie Sie das machen, ist das der falsche Weg. 

Jetzt habe ich mir überlegt, wie ich das am besten veranschauliche. In finanzpolitischen Debatten gibt es da ein bewährtes Mittel. Ich habe mir den Zollstock von Lothar Binding ausgeliehen, um zu veranschaulichen, was die FDP macht und was man eigentlich machen sollte. Der Zollstock hat jetzt leider die falsche Farbe. Ich muss mal gucken, ob man den nicht vielleicht auch in Grün kriegt. 
(Der Redner hält einen Zollstock hoch) 
Das ist das Steuersystem in Deutschland. Oben ist das Bruttoeinkommen, und unten ist das, was netto übrig bleibt. 
(Sebastian Brehm (CDU/CSU): Das kann der Lothar besser!)

Das, was die FDP immer macht, ist, dass sie versucht, das zusammenzuschieben - Slogan: Mehr Netto vom Brutto. Der Effekt ist: Die Reichen zahlen weniger Steuern, haben mehr Geld, werden reicher; unten gibt es aber kaum einen Effekt. Der Kollege Fabio De Masi hat das vorhin anhand von ein paar Zahlenbeispielen benannt.
(Markus Herbrand (FDP): Haben Sie unseren Antrag eigentlich gelesen?)

Ein weiterer Effekt: Die Reichen werden reicher; der Staat wird aber ärmer, weil die Steuereinnahmen sinken. 
(Thomas L. Kemmerich (FDP): Es geht um den Mittelstandsbauch!)

Das ist immer der Effekt von Ihren Maßnahmen.
(Thomas L. Kemmerich (FDP): Zeigen Sie mal den Bauch in der Mitte!) 

Was man eigentlich machen müsste, wenn man unten entlasten will, ist Folgendes: Man müsste das Steuersystem so verändern. 
(Der Redner zeigt auf seinen Zollstock - Heiterkeit - Beatrix von Storch (AfD): Ja, jetzt verstehe ich es! Jetzt wird es klar!)  

Man müsste bei denen hier unten wirklich was drauflegen. 
(Thomas L. Kemmerich (FDP): Das kommt in die „heute-show“, oder?) 

Nicht mehr Netto vom Brutto, sondern mehr Netto als Brutto. Das wäre das Ziel, das man anstreben müsste. 


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Hier oben hat man dann Spielraum, was die Einnahmen des Staats angeht, um das hier unten zu finanzieren. Das wäre der richtige Weg; so macht man eine zielgenaue Entlastung im unteren und mittleren Einkommensbereich und nicht so, wie Sie das immer vorschlagen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Thomas L. Kemmerich (FDP): Das ist doch eine Bewerbungsrede für die „heute-show“ und „extra 3“!) 

Rein technisch gibt es das im internationalen Bereich; das nennt sich Tax Credit.
(Thomas L. Kemmerich (FDP): Sie haben keinen Respekt vor den Fleißigen der Mittelschicht!) 

Das gibt es in vielen Ländern, zum Beispiel in Großbritannien oder den USA. Dort kriegen Leute durch das Finanzamt tatsächlich einen Zuschuss zum Einkommen. Dadurch werden Menschen entlastet.

Es gibt hier in Deutschland einen Vorschlag vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Der schlägt eine Negativsteuer vor, um Menschen von Sozialversicherungsabgaben zu entlasten. Die sind nämlich im unteren und mittleren Einkommensbereich das Problem. Der Vorschlag einer negativen Einkommensteuer, so wie ihn der DGB macht, geht in die richtige Richtung.  

Noch besser wäre es, wenn so ein Tax Credit dafür sorgen würde, dass die Menschen, wenn sie erwerbstätig sind, auch aus dem Hartz-IV-Leistungsbezug herauskommen. Das ist ein weiterer Punkt, den Sie immer gar nicht berücksichtigen. In dem Bereich, indem Sie entlasten wollen, gibt es viele Erwerbstätige, die aufstockend Hartz-IV-Leistungen beziehen; für die ändert sich dann, auch wenn man bei der Steuer was macht, überhaupt nichts. Deswegen muss man das zusammendenken; das habe ich in meiner Rede zur ersten Lesung deutlich gemacht. Wenn man da nicht rangeht und nicht guckt, dass man die Erwerbstätigen dort rausholt und dann steuerlicherseits entlastet, dann verpufft Ihr Vorschlag völlig und ist somit untauglich. 

Wenn ich Ihren Vorschlag zusammenfasse: Die Reichen zahlen weniger Steuern, werden reicher. Die Ärmeren merken die Entlastung, die Sie vorschlagen, kaum oder, wenn sie aufstockend Hartz-IV-Leistungen beziehen, gar nicht. Insofern ist der Vorschlag untauglich. Deswegen werden wir ihn ablehnen.(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Wenn Sie wissen wollen, wie man das richtig macht mit der Entlastung der unteren und mittleren Einkommen, dann würde ich Ihnen vorschlagen: Bleiben Sie noch ein bisschen im Plenum. Zum übernächsten Tagesordnungspunkt gibt es einen Antrag von uns Grünen zur Kindergrundsicherung. Mit der entlasten wir nämlich Familien tatsächlich zielgenau, also untere und mittlere Einkommen. Das ist der richtige Weg - und nicht der Murks, den Sie da vorschlagen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)