20.04.2018

Armut? Nein Danke!

Rede vom 19.04.2018

Protokoll der Rede im Deutschen Bundestag vom 20.04.2018 zum Tagesordnungspunkt 9 "Armut in Deutschland"

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hartz IV schützt nicht vor Armut. 

(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): So ist das!)

Wir haben in Deutschland 8 Millionen Menschen, die Grundsicherungsleistungen beziehen - das ist jeder Zehnte -; hinzu kommen mindestens 4 bis 5 Millionen Menschen, die einen Anspruch haben, sie aber nicht beziehen, die sogenannten verdeckt Armen. Das heißt, wir haben in Deutschland 12 bis 13 Millionen Menschen, die auf Hartz IV-Niveau oder darunter leben.

(Katja Kipping (DIE LINKE): Hört! Hört!)

Armut ist ein Problem in Deutschland, und dagegen müssen wir was tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir Grünen wollen selbstbestimmte Teilhabe für alle. Das heißt, wir wollen ein Deutschland ohne Armut.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE))

Armut vermeiden bedeutet übrigens mehr als Geld. Das ist ein Aspekt, der im Antrag der Linken völlig fehlt.

(Katja Kipping (DIE LINKE): Kommt noch!)

Wir brauchen Zugang zu Arbeit. Wir brauchen einen sozialen Arbeitsmarkt als Teil eines inklusiven Arbeitsmarktes.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen inklusive Bildung. Wir brauchen gute Gesundheitsversorgung für alle. Zunehmend gibt es Menschen in Deutschland, die keine Wohnung haben. Ich finde es unerträglich, dass in Deutschland 50 000 Menschen auf der Straße leben müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein reiches Land wie Deutschland sollte es möglich machen, dass niemand auf der Straße leben muss.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Aber zur gesellschaftlichen Teilhabe gehört in einer Marktwirtschaft auch Geld. Deswegen müssen wir zusehen, dass das soziokulturelle Existenzminimum für alle staatlich garantiert wird; denn das ist ein Grundrecht und ein Menschenrecht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das fängt bei der Grundsicherung an. Die Linke tönt immer: Hartz IV muss weg! Aber im Antrag steht nur: mehr Geld und Abschaffung der Sanktionen. - Das reicht nicht. Um nicht missverstanden zu werden: Der Regelsatz muss erhöht werden, und auch wir wollen die Sanktionen abschaffen. Wir haben just heute einen Antrag dazu eingebracht, in dem wir fordern, die Hartz-IV-Sanktionen abzuschaffen. Aber es braucht noch mehr. Die Grundsicherung muss vereinfacht und barrierefreier werden, wir brauchen mehr Rechte für die Arbeitslosen, damit es eine Vermittlung auf Augenhöhe gibt, wir brauchen einen sozialen Arbeitsmarkt und vieles mehr.

Trotzdem: Die Grundsicherung zu reformieren, reicht nicht; denn bedürftigkeitsgeprüfte Systeme sind aus mehreren Gründen immer problematisch. Wir haben immer verdeckte Armut, weil es Menschen gibt, die sie nicht in Anspruch nehmen, es ist fast immer mit Stigmatisierung verbunden, und - Herr Kollege Kober hat es eben schon angesprochen - durch die Anrechnung von Einkommen lohnt sich mehr Arbeit häufig nicht. Das liegt aber im System begründet, und das kann man in ihm kaum verändern. Eine Verbesserung der Grundsicherung ist zwar notwendig, aber das führt zu dem Dilemma, dass dann noch mehr Menschen Grundsicherung beziehen. Deswegen kann das alleine nicht die Lösung sein.

Für viele von uns ist eine Alternative das bedingungslose Grundeinkommen. Es ist eine Möglichkeit, eine finanzielle Grundlage für alle zu schaffen. Das Grundeinkommen ist übrigens keine bedarfsorientierte bedingungslose Grundsicherung. Dazwischen ist ein großer Unterschied. Das sind zwei unterschiedliche Dinge. 

(Zurufe des Abg. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE))

Es gibt bei uns aber auch viele, die der Einführung eines Grundeinkommens skeptisch gegenüberstehen, die dagegen sind. Wir werden diese Diskussion offen, kontrovers und konstruktiv führen. Es ist wichtig, dass wir eine gesellschaftliche Debatte über die Alternativen führen, und wir Grüne werden diese Debatte führen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind aber dafür, Leistungen zumindest für einzelne Gruppen zu schaffen, die das Existenzminimum ohne Bedürftigkeitsprüfung garantieren: Ich denke an die Garantierente, eine echte, nicht bedürftigkeitsgeprüfte Rente, nicht so eine verkappte Sozialhilfe wie bei den Linken,

(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Aber bei uns ist die entsprechend hoch, bei euch nur 30 Euro mehr als Grundsicherung!)

oder die Kindergrundsicherung, die das Existenzminimum für alle Kinder sicherstellt. Solche Maßnahmen braucht es, um zu verhindern, dass die Menschen in Hartz IV abrutschen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Eine weitere Gruppe, die wir in den Blick nehmen sollten, sind die Erwerbstätigen. Über 1 Million Menschen beziehen Arbeitslosengeld II, obwohl sie erwerbstätig sind. Wir sollten uns die Frage stellen: Wie kriegen wir die aus dem Hartz-IV-Bezug? Der Mindestlohn sollte so hoch sein, dass keine Aufstockung notwendig ist. Das ist derzeit nicht überall der Fall. Deswegen muss der Mindestlohn steigen. Wir brauchen aber auch für Selbstständige oder teilzeiterwerbstätige Alleinerziehende Maßnahmen, damit die nicht in Hartz IV abrutschen; denn sie gehören eigentlich da nicht rein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen insgesamt ein System von Garantieleistungen als Alternative zu Hartz IV: von einer besseren Grundsicherung über die Kindergrundsicherung bis zur Garantierente - das ist unsere Alternative. 

Deutschland ist ein reiches Land, aber der Reichtum kommt nicht bei allen an. Wir sollten endlich mit dem Ausstieg aus der Armut beginnen. Armut? - Nein danke!

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)