Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Der Redner hält den Armuts- und Reichtumsbericht hoch - Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Wolfgang, das wird aber eine große Rede! - Dr. Matthias Bartke (SPD): Den lesen Sie jetzt vor! - Heiterkeit bei der SPD)
Der mittlerweile vorliegende Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung mit seinen über 600 Seiten ist eine Bilanz von zwölf Jahren Regierung unter Unionsführung. Man muss sagen: Es ist ein Armutszeugnis; denn Armut und Ungleichheit sind auf einem Rekordniveau, und das alles trotz guter ökonomischer Rahmenbedingungen. Wie gesagt, es ist ein Armutszeugnis.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Man darf dabei nicht vergessen: In diesen zwölf Jahren hat auch die SPD mitregiert. Das heißt, es ist auch ein Armutszeugnis für die SPD. Man muss angesichts aktueller Umfrageergebnisse und Wahlerfolge der FDP auch noch einmal daran erinnern: Vier Jahre lang war auch Schwarz-Gelb an der Regierung. In dieser Zeit ist, vorsichtig formuliert, nichts besser geworden, sondern eher schlechter.
Die Zahlen liegen jetzt auf dem Tisch, und sie lassen sich nicht schönreden, auch wenn das von Vertretern der Regierungsfraktionen und der Regierung immer wieder versucht wird. Es ist auch bezeichnend, dass heute zu dem Armutsbericht zwei Anträge von den Linken und den Grünen zu Konsequenzen aus den Ergebnissen vorliegen. Armut ist für Sie in der Großen Koalition schlicht kein Thema.
(Dr. Matthias Bartke (SPD): Das ist doch nun wirklich Unsinn!)
Aber Armut ist ein zentrales Gerechtigkeitsproblem. Das Niveau von Armut und sozialer Ungleichheit ist in Deutschland so hoch, dass der soziale Zusammenhalt in Deutschland ernsthaft gefährdet ist. Deswegen ist jetzt endlich Handeln angesagt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Wir Grünen haben dazu in den letzten Jahren immer wieder Konzepte vorgelegt, die wir jetzt in unserem Antrag noch einmal gebündelt haben. Wir wollen, dass aus armen Menschen nichtarme Menschen werden. Wir wollen soziale Teilhabe für alle, und zwar selbstbestimmte Teilhabe für alle. Wir wollen eine inklusive Gesellschaft. Dazu gehört auch, dass wir untere und mittlere Einkommen entlasten, vor allem Familien.
Wir haben das in unserem Antrag in elf Bereiche mit vielen Unterpunkten untergliedert, die ich jetzt nicht alle detailliert vortragen kann. Ich nenne aber die wichtigsten Punkte.
Wir brauchen gute Arbeit und müssen die prekäre Beschäftigung eindämmen. Wir brauchen insbesondere für diejenigen mit den größten Schwierigkeiten wie Langzeitarbeitslose und Geflüchtete Zugang zum Arbeitsmarkt.
Wir brauchen Zugang zu guter Bildung für alle, ein inklusives Bildungssystem. Wir brauchen bezahlbaren Wohnraum; das ist eines der zentralen Probleme in den Städten. Wir brauchen Zugang zu Gesundheitsleistungen für alle; dazu haben wir vielfältige Maßnahmen in unserem Antrag aufgeführt.
Wir brauchen aber auch finanzielle Leistungen; denn ein Mindestmaß an Einkommen ist notwendig, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Das Bundesverfassungsgericht - das muss immer wieder betont werden - sagt, dass ein menschenwürdiges Existenzminimum ein Grundrecht sei. Wir Grüne wollen dieses Existenzminimum in allen Lebenslagen und Lebensphasen gewähren, und zwar möglichst unbürokratisch und, wo es geht, auch ohne Bedürftigkeitsprüfung.
Zentral ist das grüne Familienbudget mit einer Kindergrundsicherung, die das jetzige System der Familienförderung aus Ehegattensplitting, Kinderfreibeträgen und Kindergeld ersetzt; denn wir wollen, dass die Förderung bei den Kindern ankommt. Wir wollen die Kinder in den Mittelpunkt der Familienförderung stellen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Wir brauchen einen Kindergeldbonus; denn wir wollen, dass das sächliche Existenzminimum tatsächlich für alle Kinder im unteren Einkommensbereich garantiert wird. Wir wollen nicht, dass wie bisher mit dem Kinderzuschlag das Geld in der Verwaltung, in der Bürokratie hängenbleibt, sondern es soll bei den Kindern ankommen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Weiterhin machen wir Vorschläge zur Rente. Die Garantierente soll gewährleisten, dass Menschen, die lange in die Rentenversicherung eingezahlt haben, eine Rente bekommen, die über dem Grundsicherungsniveau liegt. Auch das soll ohne Bedürftigkeitsprüfung geschehen. Das wäre eine echte Rente. Wir sind die einzigen, die eine echte Garantierente vorschlagen.
(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): 830 Euro, das ist keine armutsfeste Rente!)
Auch die soll ohne Bedürftigkeitsprüfung gewährt werden, nicht nach dem Modell der Linken, bei dem man einen Antrag stellen muss, man sein Vermögen offenlegen muss und man angeben muss, wie groß die Wohnung ist, in der man wohnt; bei diesem Modell werden alle zusätzlichen Einkommen angerechnet.
(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Da gibt es bei uns 220 Euro mehr als bei euch! Das machen wir wie in Österreich!)
Das ist keine Rente, genauso wenig wie die Solidarrente der SPD. Wir brauchen vielmehr eine Garantierente, ohne dass die Menschen zum Sozialamt gehen und ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse offenlegen müssen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir brauchen am Ende natürlich eine gute, bürokratiefreie Grundsicherung.
Schließlich darf man, wenn man über Armut redet, über Reichtum nicht schweigen. Wir brauchen wieder die Einführung der Vermögensteuer und andere Maßnahmen, damit sich die Reichen wieder ausreichend an den öffentlichen Ausgaben beteiligen.
Da meine Redezeit jetzt fast zu Ende ist, will ich nur noch eine wichtige Gruppe erwähnen, die sonst fast gar nicht vorkommt und auch im Armuts- und Reichtumsbericht nur am Rande erwähnt wird, nämlich die Obdachlosen in Deutschland. Sie tauchen im Zusammenhang mit den Zahlen im Armuts- und Reichtumsbericht, die schon genannt worden sind, gar nicht auf, weil diese Zahlen auf Umfragen basieren, bei denen die Obdachlosen nicht erfasst werden. Wir müssen endlich vernünftige Zahlen beschaffen und ein Maßnahmenpaket gegen Obdachlosigkeit in Deutschland beschließen; denn das sind wirklich die Ärmsten in Deutschland.
Wir dürfen uns nicht an die Obdachlosigkeit gewöhnen, aber auch nicht an die 2,5 Millionen armen Kinder, nicht an die 4 Millionen armen Erwerbstätigen und nicht an die steigende Altersarmut. Wir müssen jetzt endlich handeln. Es geht um den sozialen Zusammenhalt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)