Rede zu Protokoll vom 19.01.2017 im Deutschen Bundestag, Tagesordnungspunkt 18 zum Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke "Soziale Rechte ins Grundgesetz" Drs. 18/10860:
Wolfgang Strengmann-Kuhn:
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
Ich bin dankbar für den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke, weil er ermöglicht über die Bedeutung der sozialen Menschenrechte zu debattieren.
Vor 50 Jahren - am 10. Dezember 1966 - wurde der UN-Sozialpakt zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten, die so genannten WSK-Rechte, verabschiedet. Die Bundesrepublik Deutschland ist dem Sozialpakt zehn Jahre später beigetreten. Damit sind sie neben den bürgerlichen und politischen Rechten, die die öffentliche Debatte über Menschenrechte dominieren, auch für Deutschland verbindlich. Es ist wichtig zu betonen, dass die WSK-Rechte keine Menschenrechte zweiter Klasse sind, sondern genauso wichtig sind wie die bürgerlichen und politischen Rechte.
Der Umgang der Bundesregierung mit den sozialen Menschenrechten ist allerdings problematisch. So trat zwar wie erwähnt der Sozialpakt 1976 in Kraft, das Fakultativprotokoll von 2008, das es unter anderem ermöglicht diese Rechte auch individuell einzuklagen, hat der Bundestag immer noch nicht ratifiziert. Das sollte endlich geschehen!
Ähnliches gilt für die Europäische Sozialcharta. Auch hier wurde die ursprüngliche Sozialcharta aus dem Jahr 1961 ratifiziert. Die revidierte Sozialcharta aus dem Jahr 1996 wurde zwar von Deutschland unterschrieben, aber immer noch nicht ratifiziert -nach über 20 Jahren!
Die Ratifizierung all dieser Dokumente ist überfällig!
Der lasche Umgang der Bundesregierung mit sozialen Menschenrechten und Grundrechten zeigt sich aber nicht nur bei internationalen Vereinbarungen, sondern auch bei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu sozialen Menschenrechten. So hat das Bundesverfassungsgericht in mehreren Urteilen betont, dass sich aus dem Grundgesetz ein Grundrecht und Menschenrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums herleiten lässt. Dieses Grundrecht und Menschenrecht wird von der Regierung und der großen Koalition immer wieder ignoriert und kleingeredet. Sei es bei den Berechnungen des Regelsatzes, bei der Festlegung der Leistungen für Asylbewerberinnen und Asylbewerber und zuletzt bei der Einschränkung des Anspruchs von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern auf Grundsicherung. Außerdem gibt es immer noch 100%-Sanktionen im Hartz IV-System. Wenn die Leistung aber komplett gestrichen wird, ist offensichtlich das Grundrecht auf Existenzsicherung nicht gewährt. Wir fordern die Abschaffung der Sanktionen.
Ein weiteres Beispiel ist, dass soziale Menschenrechte für Geflüchtete in Deutschland nicht im notwendigen Maße gewährleistet sind, wie in dem kürzlich erschienenen Bericht „Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland“ des Deutschen Instituts für Menschenrechte deutlich wird, das sich schwerpunktmäßig mit der Situation von Geflüchteten in Deutschland beschäftigt. Insbesondere der Zugang zu Gesundheitsleistungen ist dabei problematisch. Das Mindeste ist aber, endlich die finanziellen Leistungen anzugleichen und gleiche Leistungen für die Gesundheit zu schaffen. Das einfachste und sinnvollste wäre, das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen.
Nicht zuletzt zeigt auch die hohe Zahl von Wohnungslosen, dass auch in Deutschland soziale Menschenrechte, hier konkret das Recht auf Wohnen, verletzt werden. Es ist ein Skandal, dass es in Deutschland mehrere Hunderttausend Menschen gibt, die wohnungslos sind und nach Schätzungen der BAG Wohnungslosenhilfe fast 40.000 Menschen sogar auf der Straße leben müssen. Das ist für ein reiches Land wie Deutschland eine Schande und muss beendet werden.
Soziale Menschenrechte wie das Recht auf soziale Sicherheit und Wohnen, der Zugang zu Gesundheitsleistungen, Bildung und Arbeit müssten im Zentrum der Politik stehen. Es gibt allerdings ein Problem, und dazu zitiere ich Herrn Professor Eichenhofer aus seinem Buch „Sozial Menschenrechte im Völker-, europäischen und deutschen Recht“:
„Warum sind die sozialen Menschenrechte in Deutschland dennoch weder allgemein bekannt, noch im Bewusstsein der Juristen, Politiker oder Bürger gegenwärtig? Das hat mit dem GG zu tun. Wird in Deutschland über die Menschenrechte gesprochen, denken die meisten an die „Grundrechte“. Die Menschenrechte heißen in Deutschland „Grundrechte“. Deshalb scheinen diese mit jenen übereinzustimmen. Dagegen zeigen die sozialen Menschenrechte: Die Grundrechte machen nur einen Teil der Menschenrechte aus! Weil die Grundrechte die bürgerlichen und politischen Rechte umfassen, die sozialen Menschenrechte in den Grundrechten nicht vorkommen, werden sie gemeinhin als schlechterdings inexistent betrachtet und deshalb geflissentlich geleugnet und bestenfalls ignoriert.“ (S. 2f)
Es gäbe also durchaus Grund darüber nachzudenken, die Grundrechte zu ergänzen. Was den vorliegenden Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke angeht, sind wir allerdings skeptisch und finden, dass er über das Ziel hinausschießt. Im Grunde stehen die sozialen Menschenrechte indirekt schon im Grundgesetz. So heißt es in Artikel 1, Absatz 2: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Dazu gehören auch die sozialen Menschenrechte. In Kombination mit dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes lassen sich daraus auch soziale Grundrechte herleiten, wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach gezeigt hat. Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes, die Europäische Grundrechte-Charta, die Europäische Menschenrechtskonvention, eine Vielzahl mit bundesgesetzlicher Wirkung geltender völkerrechtlicher Vereinbarungen, auch im Bereich wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte, und ihre jeweilige Ausformung durch die Rechtsprechung sind eine belastbare Grundlage.
Und wenn wir das Grundgesetz ergänzen, sollten wir uns nicht in Details verlieren und die Grundrechte so formulieren, dass sie auch tatsächlich gewährt werden können und nicht nur bloße Absichtserklärungen sind. So könnte ich persönlich mir durchaus vorstellen, das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum wie es das Bundesverfassungsgericht beschlossen hat, auch in das Grundgesetz zu übernehmen. Ich bin gespannt auf die Stellungnahmen von Expertinnen und Experten zu dem vorliegenden Gesetzentwurf und freue mich auf die Beratungen in den Ausschüssen.
Viel wichtiger als das Grundgesetz zu ändern ist allerdings, dass die Bundesregierung die sozialen Grundrechte endlich ernster nimmt und entsprechend politisch handelt. Denn sie gelten jetzt schon – auch ohne Grundgesetzänderung.