11.11.2016

Grundsicherung für EU-Bürger*innen nicht noch mehr begrenzen

11.11.2016; 200. Sitzung des Deutschen Bundestages. 1. Lesung zum Gesetzentwurf zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II und SGB XII Drucksache: 18/10211 

Zum Protokoll der gesamten ersten Lesung geht es hier: http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/18/18200.pdf#page=42

Redeprotokoll:

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein soziales Europa ist dringender denn je notwendig. Der Zusammenhalt zwischen den Ländern und den Menschen in Europa ist gefährdet. Nach der Wahl in Amerika in dieser Woche ist es vielleicht noch wichtiger, die europäische Einheit zu stärken und das soziale Europa stark zu machen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Es ist wichtig, dass das nicht nur in Sonntagsreden und in Gastbeiträgen passiert, sondern dass dem auch Taten folgen. Es ist schon ziemlich scheinheilig, dass die Ministerin an dem Tag, an dem dieser Gesetzentwurf im Bundeskabinett beschlossen wurde, einen Gastbeitrag für die FAZ geschrieben hat, in dem sie für einen stärkeren sozialen Zusammenhalt in Europa plädiert hat; denn dieser Gesetzentwurf ist das genaue Gegenteil.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Er setzt europapolitisch ein völlig falsches Signal. Er ist sozialpolitisch verfehlt, und er erschwert die notwendige Integration vor Ort. Ausbaden vor Ort müssen das letztendlich die Kommunen. Deswegen ist Ihr Vorschlag für die Kommunen nur eine Scheinlösung.

Einig sind wir uns darin, dass es Handlungsbedarf gibt. Es gibt das Urteil des Bundessozialgerichts. Es stellt auch keine gute Lösung dar, weil es keine Rechtsklarheit schafft. Dafür sind wir als Gesetzgeber verantwortlich. Es ist auch keine Lösung, zu sagen: Die Menschen sollen, um ihr Existenzminimum zu sichern, was ein Grundrecht ist - da hat die Kollegin Zimmermann völlig recht -, Sozialhilfe beziehen können. Sozialhilfe ist keine Leistung für erwerbsfähige Menschen, und  sie muss komplett von den Kommunen bezahlt werden. Das ist keine gute Lösung, da besteht Handlungsbedarf.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Es besteht aus einem zweiten Grund Handlungsbedarf, nämlich aufgrund der sozialen Situation vor Ort. Mein Wahlkreis ist Offenbach. Offenbach ist die Stadt mit dem höchsten Anteil an Bulgaren und Rumänen in ganz Deutschland. Man kann bei mir vor Ort sehen, welche Folgen es hat, wenn Menschen keine soziale Absicherung haben. Von irgendetwas müssen sie leben. Sonst leben sie in teilweise unwürdigen Verhältnissen. In Frankfurt gibt es ein Zeltcamp, in dem fast slumartige Zustände herrschen. In Offenbach müssen manche Menschen in Schrottimmobilien wohnen; andere suchen auf anderen Wegen nach Geld, durch illegale Tätigkeiten wie Schwarzarbeit oder schlimmere Aktivitäten. Wir brauchen soziale Unterstützung, um den Menschen zu helfen, integriert zu werden. Sie dürfen nicht ausgegrenzt werden, sondern müssen möglichst schnell Teil dieser Gesellschaft werden und eine echte Chance auf dem Arbeitsmarkt bekommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE))

Unser Vorschlag, unsere Alternative ist: Weil wir dafür sorgen müssen, dass die Menschen eine Chance auf dem Arbeitsmarkt bekommen, sollten sie Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II, vulgo Hartz IV, bekommen. Denn dann hätten sie eine Unterstützung, was Sozialleistungen, finanzielle Leistungen und Arbeitsmarktintegrationsleistungen angeht. Wir sagen: Nach drei Monaten soll es die Möglichkeit geben, Hartz IV zu beantragen. Wenn die Betroffenen wirklich nach Arbeit suchen und eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, dann müssen sie unterstützt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir sagen auch, dass in Einzelfällen - aber nur in Einzelfällen -, wenn nachgewiesen wird, dass die Menschen gar nicht nach Arbeit suchen oder dass sie trotz aller Bemühungen der Jobcenter keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, die Leistung wieder entfallen kann, weil dann auch das Recht auf Freizügigkeit entfällt. Aber dies soll im Einzelfall entschieden werden und nicht eine pauschale Diskriminierung darstellen, wie Sie sie in Ihrem Gesetzentwurf vorsehen; auch das ist uns wichtig.

Natürlich muss man auf EU-Ebene endlich dafür sorgen, dass die Menschen nicht aus finanzieller Not zu uns kommen. Auch da - die Staatssekretärin hat das eben zwar erwähnt - fehlen noch Aktivitäten auf bundespolitischer Ebene. Es gibt noch keine Stellungnahme der Bundesregierung zur Säule sozialer Rechte. Hier müssen wir aber ansetzen. Wir müssen eine Mindesteinkommensrichtlinie haben, damit es überall angemessene Grundsicherungssysteme gibt und die Menschen überall in Europa vor Armut geschützt werden. Wir brauchen auch Mindeststandards bei den sozialen Sicherungssystemen, um zu verhindern, dass Menschen aus finanzieller Not auswandern und ihr Land verlassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn die Menschen aber zu uns kommen, dann müssen wir sie unterstützen - und zwar besser als bisher - und den pauschalen Ausschluss, den es jetzt im SGB II gibt, abschaffen. Wir brauchen eine bessere soziale Absicherung der Freizügigkeit. Wir brauchen mehr und nicht weniger soziales Europa.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN - Dagmar Ziegler (SPD): Und das ausschließlich in Deutschland, oder wie?)