01.12.2016

Existenzminimum vernünftig berechnen und ein Abrutschen in Armut verhindern

01.12.2016
206. Sitzung des Deutschen Bundestages
Tagesordnungspunkte 9

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes Drucksachen 18/9985, 18/10351, 18/10444
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Drucksache 18/10521 

b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch Drucksachen 18/9984, 18/10349, 18/10444
Nr. 1.8 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Drucksache 18/10519

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN "Existenzminimum verlässlich absichern, gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen" Drs. 18/10250

Rede vom 01.12.2016 von Wolfgang Strengmann-Kuhn für die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute ein sehr wichtiges Gesetz. Es geht um das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Das betrifft die 8 Millionen Menschen, die in Deutschland Mindestsicherungsleistungen beziehen, und eigentlich uns alle, auch die, die Steuern zahlen, weil sich auch der Steuerfreibetrag letztlich aus diesen Berechnungen ableitet. Es ist also ein Gesetz, das uns alle betrifft.

Das Existenzminimum wird alle fünf Jahre neu berechnet. Grundlage ist ein sogenanntes Statistikmodell. Es geht aber nicht darum, das Existenzminimum objektiv zu bestimmen, sondern dahinter stecken immer normative Entscheidungen. Die Grundidee ist eigentlich, dass man eine Referenzgruppe, die ein existenzsicherndes Einkommen hat, und deren Ausgaben betrachtet und daraus den Regelsatz ableitet.

Was die Bundesregierung jetzt allerdings macht, ist Folgendes: Sie betrachtet eine Referenzgruppe, die sie so ausgesucht hat, dass das Einkommen gerade etwas über dem Grundsicherungsniveau liegt. In dieser Referenzgruppe sind zudem viele Menschen, die weniger als die Grundsicherung haben. Dadurch entstehen Zirkelschlüsse. Ihr Einkommen beträgt gerade einmal 764 Euro.

Eigentlich müssten zumindest die Gesamtausgaben der Menschen in dieser Gruppe als Referenzwert genommen werden, aber selbst das macht die Bundesregierung nicht. Von den Ausgaben, die diese Gruppe hat, rechnet sie 140 Euro herunter und rechnet damit das Existenzminimum künstlich klein. Es ist eindeutig, dass das Existenzminimum, das die Bundesregierung hat berechnen lassen, nicht existenzsichernd ist. Deswegen werden wir diesen Gesetzentwurf ablehnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Ich könnte relativ lange darüber reden, was an der Berechnung der Bundesregierung problematisch ist, und unsere Alternativen ausführlich darstellen. Ich mache das jetzt nicht, weil die drei Minuten, die ich noch habe, dazu nicht ausreichen und ich vermutlich keine zusätzliche Redezeit bekomme. Frau Präsidentin, ich würde das gern machen, lasse das aber und verweise auf die Stellungnahmen der Sozialverbände und den Alternativvorschlag in unserem Antrag, der hier heute auch behandelt wird. Darin steht, wie man das Existenzminimum methodisch vernünftig und existenzsichernd berechnen könnte. Ich empfehle das zum Nachlesen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte die Zeit nutzen, um auf zwei aus meiner Sicht wichtige Punkte hinzuweisen - die in der Debatte ein Rolle gespielt haben und interessanterweise aus den Reihen der Unionsfraktion angesprochen worden sind -, die ich für den sozialen Zusammenhalt bei uns für relevant halte, bei denen ich aber andere Schlussfolgerungen ziehen würde als die Kolleginnen und Kollegen aus der Unionsfraktion.

Der eine Punkte ist: Wir haben diese Woche gerade die neuen Zahlen vom Statistischen Bundesamt erhalten, wonach 8 Millionen Menschen in Deutschland Grundsicherungsleistungen beziehen - 8 Millionen, also fast 10 Prozent der Bevölkerung. Nimmt man noch Leistungen nach dem BAföG hinzu, sind es schon 9 Millionen Menschen, die Grundsicherungsleistungen oder ähnliche Leistungen in Deutschland beziehen.

Kollege Zimmer hat in der ersten Lesung hier im Plenum sowie gestern im Ausschuss noch einmal betont: Wenn man das Existenzminimum ordentlich berechnete ‑ wie wir das vorschlagen ‑ oder wir dem Vorschlag der Linken folgten, hätten wir nicht 8 oder 9 Millionen, sondern 10 Millionen, 11 Millionen oder noch mehr Menschen, die Grundsicherungsleistungen beziehen. Damit stieße das bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherungssystem an seine Grenzen, was durchaus problematisch wäre. Deswegen ist es aus meiner Sicht wichtig, auch über Alternativen wie das Grundeinkommen nachzudenken und zu diskutieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Man muss aber mindestens dafür sorgen, dass die Menschen, die eigentlich nicht in das Hartz-IV-System, nicht in die Grundsicherung gehören, dort herauskommen. Dafür haben wir in unserem Rentenkonzept Vorschläge unterbreitet - vor allen Dingen die grüne Garantierente -, um Menschen, die lange rentenversicherungspflichtig beschäftigt waren, nicht in die Grundsicherung abrutschen zu lassen.

(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Die gilt nicht für Bestandsrentner, nur für die Zukunft!)

Und wir werden morgen Vormittag die grüne Kindergrundsicherung diskutieren, mit der wir es erreichen, dass ein großer Teil der jetzt auf Hartz IV angewiesenen Kinder aus dem Hartz-IV-Bezug herauskommt. Das wäre das Mindeste, was man an der Stelle tun müsste.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte aber auf eine weitere Gruppe verweisen, und damit bin ich bei dem zweiten Punkt, der in der gestrigen Debatte eine Rolle gespielt hat, nämlich: Was ist mit den Erwerbstätigen? Müsste es nicht einen Abstand geben zwischen denen, die erwerbstätig sind, und denen, die das Existenzminimum erhalten? Ja, ich finde schon. Auch wenn das Lohnabstandsgebot nicht mehr gilt und für die Berechnung des Existenzminimums laut Bundesverfassungsgericht keine Rolle mehr spielen darf, müssen wir dafür sorgen, dass Menschen, die erwerbstätig sind, ein höheres Einkommen haben als das Existenzminimum.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katja Kipping (DIE LINKE))

Da sind wir alle gefordert, noch einmal über Maßnahmen nachzudenken, mit denen wir das erreichen. Denn ich glaube, auch der soziale Zusammenhalt ist gefährdet, wenn es nicht möglich ist, durch eigene Arbeit mehr zu bekommen als das Existenzminimum. Das gilt auch für Teilzeiterwerbstätige und Selbstständige. Ich glaube, dass da noch eine wichtige Aufgabe vor uns liegt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch da könnte ich Vorschläge unterbreiten.

Da aber meine Redezeit um ist, ein kurzes Fazit: Wir müssen also an zwei Stellen ansetzen. Wir brauchen auf der einen Seite eine Grundsicherung, die existenzsichernd ist, vor Armut schützt und deren Regelsatz vernünftig berechnet ist. Auf der anderen Seite müssen wir aber dafür sorgen, dass möglichst wenig Menschen in die Grundsicherung abrutschen, und dabei vor allem an die Alten, die Kinder und an die Erwerbstätigen denken. So wird ein Schuh daraus. Die Bundesregierung macht beides nicht, es wäre aber beides dringend notwendig, um den sozialen Zusammenhalt bei uns wiederherzustellen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Das gesamte Redenprotokoll gibt es hier: http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/18/18206.pdf#page=96