Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn:
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. Strengmann-Kuhn von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist wirklich erschreckend, wie stark die wirtschaftliche Kompetenz der Union in den vergangenen Jahren gesunken ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
Ich habe selten so viel ökonomischen Unsinn in einer Rede gehört wie gerade eben. Deswegen will ich versuchen, das Problem der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte zu beschreiben.
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Entwicklungshilfe ist das jetzt! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die verstehen das nicht!)
In der Tat steht es ja nicht grundlos im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz der damaligen Großen Koalition.
Man muss sich vorstellen, was passiert, wenn man permanent mehr produziert als konsumiert – das heißt außenwirtschaftliches Ungleichgewicht –, für eine Firma, für eine Person oder für einen Landwirt. Es ist ökonomisch nicht gesund, wenn man mehr produziert, als man selber konsumieren kann. Man scheffelt immer nur mehr Vermögen, aber das macht nur dann Sinn, wenn man das Vermögen irgendwann wieder aufbraucht und in Konsum umsetzt. Dauerhafter Überschuss ist ökonomisch nicht sinnvoll, und er ist nicht gut für eine Volkswirtschaft. Das sollten Sie einsehen.
Der zweite Punkt ist, dass man auch die andere Seite betrachten muss. Wenn wir einen Überschuss haben, dann geht es rechnerisch gar nicht anders, als dass es auf der anderen Seite ein genauso hohes Defizit gibt. Deswegen müssten in der Europäischen Union die Grenzen für Überschuss und Defizit eigentlich gleich hoch sein, weil es rein rechnerisch auch das Gleiche ist. Aber mit dem Rechnen haben Sie offensichtlich Schwierigkeiten.
Weil Vermögen auf der einen Seite immer das Defizit auf der anderen Seite ist, bedeutet das: Wenn wir hier Vermögen aufbauen und dafür bei den anderen ein Defizit entsteht, also mehr konsumiert als produziert würde, dann ist das ein Problem, das Sie auch mit Blick auf Griechenland kritisieren. Die Menschen in Griechenland haben über ihre Verhältnisse gelebt, während wir unter unseren Verhältnissen gelebt haben. Die Folge eines Defizits ist Verschuldung. Unsere Güter werden dadurch bezahlt, dass anderswo Schulden aufgehäuft werden. Insofern hat Herr Schlecht recht, wenn er sagt, dass dies eine der Ursachen der Krise ist, in der wir uns im Moment befinden.
Auf diese Problematik haben wir schon des Öfteren in Anträgen hingewiesen. Ich muss allerdings sagen, dass ein reiner Fokus auf die Löhne zu einfach ist.
(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Der erste Weg zur Erkenntnis!)
Die Betrachtung muss hier breiter ausfallen. Es ist sicherlich richtig: Die Ausweitung des Niedriglohnsektors ist ein Problem. Das war zwar ein Ziel der Agenda 2010. Aber man muss deutlich sagen: Das war ein Fehler.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Das ist, wie gesagt, nur eine von mehreren Ursachen.
Im Zusammenhang mit der Agenda 2010 sage ich: Die Flexibilisierung war durchaus richtig. Viele wichtige Leute in der Fraktion, etwa der damalige sozialpolitische Sprecher, der vorne sitzt, haben schon damals einen Mindestlohn gefordert. Der damalige Umweltminister hatte parallel zur Einführung der Agenda 2010 einen Mindestlohn gefordert. Auch unser Parteivorsitzender in der Zeit der rot-grünen Regierung, Reinhard Bütikofer, hat damals einen Mindestlohn gefordert. Das wäre eine notwendige flankierende Maßnahme zur Agenda 2010 gewesen.
Auch bei der Deregulierung sind wir ein Stück zu weit gegangen. Wir haben in den letzten Jahren viele Vorschläge vorgelegt, wie man diese Deregulierung nicht komplett zurückdreht, sondern sie verbessert. Deswegen haben wir sowohl die Einführung des Mindestlohns als auch das Tarifautonomiestärkungsgesetz unterstützt. Das waren beides Forderungen, die wir seit Jahren erheben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir sind dabei noch lange nicht am Ende. Wir sind für die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung. Wir sind für Maßnahmen gegen den Missbrauch von Werkverträgen. Aber am Beispiel Leiharbeit kann man den Unterschied zwischen uns Grünen und Ihnen von der Linksfraktion deutlich machen.
Wir halten die Leiharbeit für ein wichtiges Instrument, um den Unternehmen mehr Flexibilität zu ermöglichen. Sie wollen die Leiharbeit abschaffen. Wir wollen Flexibilität ermöglichen. Gleichzeitig aber müssen Leiharbeiter fair bezahlt werden. Das heißt Equal Pay ab dem ersten Tag, nicht erst, wie es die Große Koalition vorhat, nach neun Monaten. Equal Pay muss ab dem ersten Tag gelten, verbunden mit dem Flexibilitätsbonus. Dann wäre es ein vernünftiges und flexibles Instrument mit entsprechender sozialer Sicherheit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es fehlen in Ihrem Antrag ganz viele wichtige Punkte.
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn:
Herr Strengmann-Kuhn, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja, gerne.
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn:
Bitte.
Alexander Ulrich (DIE LINKE):
Herr Kollege Strengmann-Kuhn, Sie haben eben am Beispiel Leiharbeit den Unterschied zwischen Bündnis 90/Die Grünen und der Linken dargestellt. Ich frage Sie: Worin bestünde denn der Unterschied zwischen uns, wenn all das, was Sie als Vorteil bezeichnen, durch sachlich begründete Befristungen möglich wäre? Läge dann nicht der Unterschied darin, dass diejenigen, die unter einen Tarifvertrag fielen, eine vernünftige, gleiche Bezahlung erhielten?
(Beifall bei der LINKEN – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso? Gleiche Bezahlung bei Equal Pay haben wir auch!)
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich möchte jetzt ein Stück weit grundsätzlich werden. Erinnern wir uns an den Arbeitsmarkt in Deutschland vor 15 oder 20 Jahren. Dieser Arbeitsmarkt war einer der am stärksten regulierten Märkte in Europa mit den entsprechenden Problemen. Deswegen war, wie gesagt, die Flexibilisierung an dieser Stelle richtig. Es war auch vernünftig, verschiedene Möglichkeiten der Flexibilisierung einzuführen. Das gilt auch für Befristungen, die unseres Erachtens begründet werden müssen. Deswegen fordern wir die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung.
Auch die Leiharbeit kann sowohl für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch für die Unternehmen eine gute Wahl sein. Das hängt von der ökonomischen Situation und auch von der Person ab. Es gibt durchaus Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer, insbesondere besser verdienende – das gebe ich zu –, die es sehr sinnvoll und auch spannend finden, in verschiedenen Betrieben zu arbeiten. Wie gesagt, diese Tätigkeit muss dann auch entsprechend bezahlt werden. Weil das eher eine höhere Qualifikation erfordert, sagen wir, dass es an dieser Stelle einen Flexibilitätsbonus geben müsste.
Nun zu den Punkten, die in Ihrem Antrag fehlen. Da meine Redezeit langsam abläuft, kann ich nur noch Stichworte nennen.
Wenn wir die Exportüberschüsse abbauen wollen, dann heißt das nicht, dass wir die Exporte reduzieren wollen, sondern wir wollen die Importe steigern. Das heißt, wir brauchen Umverteilung und in der Tat mehr Nachfrage. Das betrifft aber nicht nur die Löhne, sondern wir müssen insbesondere geringe Einkommen stärken durch bessere Armutsbekämpfung. Wir müssen die Grundsicherung verbessern, wir müssen den Regelsatz erhöhen, und wir müssen die Kinderarmut bekämpfen. Es ist ein Skandal, dass Kinder bei uns immer noch ein Armutsrisiko sind. Wir müssen dafür sorgen, dass sowohl abhängig Beschäftigte als auch Selbstständige von ihrer Arbeit leben können. Das sind Punkte, die neben der Lohnarbeit bewirken, dass durch sie die Nachfrage steigen würde.
Wir müssen auf der anderen Seite auch eine Umverteilung am oberen Ende der Skala betrachten. Wir müssen vor allen Dingen hohe Vermögen stärker besteuern. Was in Ihrem Antrag komplett fehlt, ist die europäische Ebene. Darüber könnte ich weitere fünf bis zehn Minuten reden. Wir brauchen eine europäische Koordinierung der Wirtschafts- und Lohnpolitik. Das Europäische Semester und die Punkte, die darin schon enthalten sind und noch verbessert werden könnten, fehlen in Ihrem Antrag komplett. Darüber könnte man noch lange reden.
Wenn man dies zusammenfasst, dann würde ich sagen: Die Probleme sind durchaus richtig beschrieben, die Forderungen in Ihrem Antrag sind aber völlig platt. Teilweise wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn:
Herr Strengmann-Kuhn, Sie müssen zum Schluss kommen.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zentrale Punkte fehlen. So wird das noch nichts mit der Regierungsfähigkeit, aber das kommt vielleicht noch.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)