01.12.2016

Es braucht klare Regelungen für europäische Arbeitssuchende

Die Absicht der Bundesregierung ist deutlich zu kritisieren. Hartz IV oder Sozialhilfe an EU-Ausländer frühestens dann auszuzahlen, wenn EU-Bürger*innen hier fünf Jahre nicht gearbeitet haben ist sozialpolitisch und europapolitisch verfehlt. Auch für EU-Bürgerinnen und Bürger gilt das deutsche Grundrecht auf Existenzsicherung. Wenn das verweigert wird, führt das zu sozialen Folgeproblemen, die letztlich doch wieder die Kommunen ausbaden müssen. Daher haben wir Sozial- und Europapolitiker*innen von der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen eine Entschließungsantrag mit einer alternativen Lösung erarbeitet. Er wird zur abschließenden Lesung im Deutschen Bundestag, am 01.12.2016 mit zur Abstimmung aufgesetzt.

Den Antrag als PDF gibt es hier: Bundestagsdrucksache 18/10533

Entschließungsantrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Annalena Baerbock, Manuel Sarrazin, Dr. Franziska Brantner, Corinna Rüffer, Beate Müller-Gemmeke, Monika Lazar, Markus Kurth, Sven-Christian Kindler, Peter Meiwald, Brigitte Pothmer, Claudia Roth (Augsburg), Hans-Christian Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung – Drucksachen 18/10211, 18/10518

Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest, Die Freiheit, Grenzen zu überschreiten, ist ein europäischer Wert, der nicht nur für Waren, Güter und Dienstleistungen, sondern insbesondere auch für die Menschen gilt. Sie fördert das Gefühl der Zusammengehörigkeit in Europa und stärkt europäische Werte wie Menschenrechte, Demokratie und Pluralismus. Spätestens seitdem die Briten im Frühsommer für den Austritt Großbritanniens aus der EU votierten, ist klar, dass eben dieser Zusammenhalt nicht mehr selbstverständlich ist. Die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten stehen nun vor der Aufgabe, die EU so weiterzuentwickeln, dass sie wieder mehr Akzeptanz in der Bevölkerung findet. Die Rückkehr zu nationalen Egoismen und ein weiteres Erstarken rechter Kräfte gilt es zu verhindern. Dafür braucht es mehr Europa und ein Europa, das Antworten auf die sozialen Sorgen und Ängste seiner Bürgerinnen und Bürger findet. In Europa herrscht nach wie vor ein enormes Wohlstands- und Einkommensgefälle.

Um die regionalen Unterschiede in den Lebensverhältnissen wirksam zu bekämpfen, sind verbindliche Ziele in der europäischen Sozialpolitik, eine stärkere Koordinierung sowie gemeinsame Mindeststandards im Bereich der sozialen Sicherung und des Arbeitsmarktes unerlässlich. Ergänzend hierzu muss eine Mindesteinkommensrichtlinie erarbeitet werden, die Eckpunkte für Grundsicherungsleistungen in den einzelnen Mitgliedstaaten festlegt. Die Bundesregierung muss sich dringend stärker für die Einführung existenzsichernder Grundsicherungssysteme in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union einsetzen. Darüber hinaus müssen transparente und nachvollziehbare Regeln für den Zugang zu Sozialhilfeleistungen in Deutschland geschaffen werden. Menschen, die aus anderen EU-Mitgliedstaaten zu uns kommen, um Arbeit zu suchen, brauchen unsere Unterstützung, durch die Sicherstellung ihrer Existenzgrundlage einerseits und Beratung und Angebote von Maßnahmen andererseits, um sie in die Lage zu versetzen, sich schnellstmöglich in den Arbeitsmarkt zu integrieren und unabhängig von staatlicher Unterstützungsleistung zu werden. Genau das ist ein grundlegendes Ziel der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Wenn diese Zielsetzung ernst genommen werden soll, heißt es im Umkehrschluss auch, dass eine Versagung dieser Brücke in den Arbeitsmarkt gerade dazu führen kann, dass es für viele Menschen deutlich schwerer wird, sich in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft zu integrieren. Ohne Existenzsicherung besteht eine noch größere Gefahr, dass sie von skrupellosen Unternehmen oder Vermietern ausgebeutet werden. Entsprechend ist es fragwürdig, wenn in einem Gesetz für Arbeitsuchende, jene von allen Leistungen ausgeschlossen werden, die tatsächlich Arbeit finden wollen. In diese Erwägungen müssen aber auch mögliche finanzielle Belastungen für die deutsche Grundsicherung einbezogen werden. Denn für Unionsbürgerinnen und Unionsbürger aus Mitgliedsstaaten mit einem weitaus niedrigeren durchschnittlichen Einkommen können die Beträge, die hier als SGB-II-Regelsatz gezahlt werden, bei einer kompletten Öffnung der Sozialhilfeleistungen einen Anreiz zur Einwanderung darstellen. In der Summe könnte dadurch eine relevante finanzielle Belastung im Bereich der Grundsicherung entstehen. Das Bundessozialgericht hat im Dezember 2015 in mehreren Fällen entschieden, in welchen Fällen Unionsbürgerinnen und Unionsbürger existenzsichernde Leistungen in Deutschland beanspruchen können. Nach geltender Rechtslage können diese, wenn sie nur zur Arbeitsuche eingereist sind, von SGB-II-Leistungen ausgeschlossen werden. Das Bundessozialgericht hat festgestellt, dass der Ausschluss auch für jene Personen greift, die über kein Aufenthaltsrecht verfügen. So der Aufenthalt dieser Personen aber als „verfestigt“ anzusehen ist, nach sechs Monaten, hat das Bundessozialgericht ihnen einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt) zuerkannt. Der Deutsche Städtetag, der Deutsche Landkreistag und auch der Bundesrat haben daraufhin eine gesetzliche Klarstellung verlangt, weil die grundlegende Abgrenzung zwischen SGB II und SGB XII für verwischt worden ist. Die Aufnahme von erwerbsfähigen Menschen ins SGB XII führt dazu, dass die Kommunen stärker belastet werden, weil diese Leistungen komplett von den Kommunen zu finanzieren sind. Zweitens führt sie dazu, dass diese Personen in der Folge von sinnvollen Maßnahmen zur Integration in den Arbeitsmarkt, die ausschließlich im SGB II enthalten sind, ausgeschlossen sind. Drittens haben auch Personen, die nicht arbeiten und keine Arbeit suchen, nach einem Aufenthalt von sechs Monaten Zugang zu Sozialhilfeleistungen der Kommunen. Die Bundesregierung hat nun einen Gesetzentwurf vorgelegt, der vorsieht, Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, die noch nicht bzw. nicht ausreichend lange Zeit in Deutschland einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sind, pauschal für die ersten fünf Jahre ihres Aufenthalts von Grundsicherungsleistungen und grundsätzlich auch von Sozialhilfe auszuschließen. Damit sendet der Entwurf völlig falsche Signale. Der Gesetzentwurf bietet keine angemessene Lösung für die vielschichtigen Herausforderungen in den Kommunen und für die Betroffenen. Der Bund wird aus der finanziellen Verantwortung entlassen. Der fehlende Zugang zu sozialer Sicherheit kann dazu führen, dass sich die Probleme vor Ort verstärken, weil Menschen in Schwarzarbeit und andere Notlagen gedrängt werden. Die Arbeitsmarktintegration von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern wird erschwert. Außerdem ist fraglich, ob ein so langer Ausschluss von Grundsicherungsleistungen dem Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums entspricht. Um arbeitsuchende Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern bei der Integration in den Arbeitsmarkt zu unterstützen, braucht es einen differenzierteren Ansatz: Anstatt sie, wie von der Bundesregierung beabsichtigt, komplett von Unterstützung auszuschließen, sollen sie nach drei Monaten, und damit nach dem Zeitraum in dem sie sich ohne Bedingungen in jedem Mitgliedsstaat aufhalten können, Zugang zu Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende erhalten können, so sie denn nachweislich nach Arbeit suchen. Um die Arbeitnehmerfreizügigkeit stark zu machen, bekommen europäische Arbeitsuchende so Hilfen an die Hand, um in Deutschland Fuß zu fassen. Wenn Personen jedoch nicht aktiv nach Arbeit suchen oder keine begründete Aussicht haben eine Stelle zu bekommen, kann das Aufenthaltsrecht und damit der Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II wieder entfallen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf, den vorgelegten Gesetzentwurf zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch zurückzuziehen und stattdessen

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der regelt, dass

a) nach einem Aufenthalt von drei Monaten auch Arbeitsuchende aus der EU Grundsicherung nach dem SGB II beantragen können, wenn sie zuvor eine Verbindung zum hiesigen Arbeitsmarkt aufgebaut haben und aktiv nach Arbeit suchen;

b) Unionsbürgerinnen und Unionsbürger den gleichen Anspruch wie deutsche Arbeitsuchende auf alle Integrationsinstrumente wie Beratung, Vermittlung, berufliche und sprachliche Qualifizierung aus SGB II und III und Teilnahme an Integrationskursen haben;

c) Unionsbürgerinnen und Unionsbürger von den Leistungen nach dem SGB II und SGB XII ausgeschlossen werden können, wenn sie nicht (mehr) nach Arbeit suchen oder ihre Arbeitssuche keine Aussicht auf Erfolg hat;

2. sich auf EU-Ebene einzusetzen für

a) eine bessere soziale Absicherung der Freizügigkeit, so dass alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, die in einem EU Mitgliedstaat Arbeit suchen, dabei unterstützt werden, dass sie eine Chance auf dem Arbeitsmarkt bekommen und grundsätzlich Zugang zu Grundsicherungsleistungen erhalten, und

b) die Einführung von sozialen Mindeststandards sowie die Einführung von existenzsichernden Grundsicherungsleistungen in allen Mitgliedsstaaten und die Verabschiedung einer Mindesteinkommensrichtlinie, die die Rahmenbedingungen, wie die jeweilige Mindesthöhe und die Eckpunkte der Ausgestaltung von Grundsicherungsleistungen in den Mitgliedstaaten, regelt. Die konkrete Umsetzung wäre Aufgabe der Mitgliedstaaten.

Berlin, den 29. November 2016 Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Begründung
Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II sind ausländische Arbeitsuchende bereits heute vom Bezug von Arbeitslosengeld II ausgeschlossen, „deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt“.

In einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 15. September 2015 wurde entschieden, dass dieser Ausschluss europarechtlich zulässig ist. Damit ist die Rechtsunsicherheit jedoch noch nicht beseitigt. Denn neben der europarechtlichen Klärung bleibt die Frage, wer wann welche Ansprüche auf Sozialleistungen nach deutschem Recht hat, weiter ungeklärt.

Die Sozialgerichte beantworten diese Frage unterschiedlich. Das Bundessozialgericht (BSG) hat dazu seit Dezember 2015 in mehreren Fällen Urteile zu den Leistungsausschlüssen von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern nach dem SGB II und SGB XII gesprochen. Das Gericht hat festgestellt, dass zwar der Ausschluss arbeitsuchender Unionsbürgerinnen und Unionsbürger von SGB-IILeistungen – im Nachgang zur Rechtsprechung des EuGH rechtens sei, jedoch auch entschieden dass Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII zu erbringen seien. Die Betroffenen dürften demnach, nicht mehr von Sozialhilfeleistungen (nach SGB XII) ausgeschlossen werden, wenn sich ihr Aufenthalt „verfestigt“ habe, was spätestens nach 6 Monaten der Fall sei. Das hat das Gericht mit dem Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums begründet.

Das Sozialgericht Berlin wendete sich in einer Entscheidung gegen das BSG und begründete, dass der Kläger keinen Anspruch auf Sozialhilfe habe, weil dieser, dem Grunde nach - also nach seinem Gesundheitszustand, erwerbsfähig sei und nicht dem Regelungsbereich des Sozialhilferechts (§ 21 Satz 1 SGB XII) unterfiele (SG Berlin - Az. S 149 AS 7191/13).

Das Sozialgericht Mainz wiederum hat dem Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang Fragen zur Entscheidung vorgelegt (SG Mainz - Az. S 3 AS 149/16). Hier stellt sich also die verfassungsrechtliche Frage, ob bzw. inwiefern durch den Ausschluss von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern von Grundsicherungsleistungen, das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum in Frage gestellt wird oder nicht.

Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf löst die bestehenden und die durch die Urteile des BSG entstanden Probleme nicht zufriedenstellend. Der Vorschlag, Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, die sich nachweislich um Arbeit bemühen, den Zugang zu SGB-II-Leistungen zu ermöglichen, ist hingegen sowohl migrationspolitisch als auch sozialpolitisch fair und europapolitisch progressiv, da er vier Ziele entscheidende Ziele verwirklicht: Erstens ist der Zugang zu Leistungen nach dem SGB II ab dem vierten Monat bedacht und ausgewogen. Er stützt sich auf die Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/ EG, laut der es den Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern grundsätzlich möglich ist, sich innerhalb der ersten drei Monate ohne jegliche Bedingungen oder Formalitäten innerhalb der europäischen Union rechtmäßig aufzuhalten. Schon heute ist in dieser Zeit der Bezug von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen. Dieser Ausschluss bleibt bestehen. Grundsicherungsleistungen können demzufolge nach SGB II im Anschluss an die ersten drei Monate des Aufenthalts bei Nachweis der Arbeitssuche beantragt werden. Gleichzeitig wird zweitens deutlich, dass im Einzelfall der Zugang auch wieder entzogen werden kann, wenn keine aktive Arbeitssuche und keine Aussicht auf Erfolg der Arbeitssuche besteht. Das oft angebrachte Argument der Zuwanderung in deutsche soziale Sicherungssysteme, verliert so seine Gültigkeit. Vielmehr werden damit diejenigen, die ernsthaft Arbeit suchen bei der Integration in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft unterstützt. Darüber hinaus entlässt der beschriebene Vorschlag der Verortung im SGB II den Bund nicht aus seiner finanziellen Verantwortung. Im Gegensatz zur Sozialhilfe nach dem SGB XII werden Leistungen nach dem SGB II überwiegend vom Bund finanziert. In diesem Zusammenhang wird außerdem berücksichtigt, dass die bisher gültige und sinnvolle Rechtskreisabgrenzung zwischen SGB II und SGB XII, zwischen „erwerbsfähig“ und „nicht-erwerbsfähig“ weiterhin Gültigkeit besitzt. Viertens wird das laut Grundgesetz bestehende Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gewahrt, indem der Personenkreis der arbeitsuchenden EUBürgerinnen und EU-Bürger nicht pauschal von Sozialleistungen ausgeschlossen wird, wie im Gesetzentwurf vorgesehen. Es zeigt sich also, dass eine klare gesetzliche Grundlage dringend erforderlich ist. Der beschriebene Vorschlag schafft diese Klarheit. Der vorgelegte Gesetzentwurf stellt bestenfalls eine Scheinlösung dar.