02.07.2014

Antrag an den Bundestag: Existenzminimum und Teilhabe sicherstellen – Sanktionsmoratorium jetzt

Deutscher Bundestag Drucksache 18/1963 vom 02.07.2014

Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Beate Müller-Gemmeke, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Kerstin Andreae, Sven-Christian Kindler, Dr. Julia Verlinden und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Existenzminimum und Teilhabe sicherstellen – Sanktionsmoratorium jetzt

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist ein Grundrecht und hat darum in Deutschland einen sehr hohen Stellenwert. Das Bundesverfassungsgericht leitet ein Grundrecht auf Existenzsicherung, d.h. auf Sicherung der physischen Existenz, sowie auf ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben, aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikels 20 Absatz 1 GG ab. Die Bekämpfung von Armut wird damit zu einer wichtigen Aufgabe des Staates, in der der Staat für die Sicherstellung eines für die Existenzsicherung ausreichenden Einkommens der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger Sorge zu tragen hat.

Eine grundlegende Reform ist notwendig. Die Regelung und Verhängung von Sanktionen muss die Rechte und Pflichten der Leistungsberechtigten auf der einen Seite und die Rechte und Pflichten des Staates auf der anderen Seite in ein angemessenes und faires Verhältnis setzen. Dies ist derzeit nicht der Fall. Sanktionen sind für die Leistungsberechtigten oft demütigend, unnötig und kontraproduktiv.

Von den Leistungsbeziehenden können und sollen weiterhin Pflichten zur Mitwirkung, vor allem bei der Eingliederung in Erwerbsarbeit, erwartet werden. Es kann jedoch nicht sein, dass das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch Sanktionen in Frage gestellt wird.

Bei der Reform der Sanktionen muss zwingend berücksichtigt werden, dass diese im Rahmen eines Leistungssystems stattfinden, welches der Existenzsicherung dient. Das ist sowohl bei der Gestaltung des rechtlichen Rahmens als auch bei der Umsetzung dieser Regeln vor Ort zu beachten.

Zudem muss berücksichtigt werden, dass Fallmanager und Leistungsberechtigte Partner bei der Eingliederung sind und sie kooperativ miteinander zusammenarbeiten müssen. Nicht Sanktionen, bürokratische Zumutungen und Gängelung, sondern faire Spielregeln, Motivation und Bestärkung der Arbeitssuchenden müssen die Integrationsarbeit in den Jobcentern bestimmen. Grundlagen dafür
sind die Selbstbestimmung und Stärkung der Arbeitssuchenden im Eingliederungsprozess und ein qualifiziertes, individuelles und umfassendes Fallmanagement.

Sowohl Scheinangebote zur Überprüfung der Arbeitsbereitschaft als auch Sanktionsdrohungen und -automatismen haben in diesem Prozess keinen Platz. Die Grundsicherung ist so zu gestalten, dass sie soziale Teilhabe und eigenes Engagement zur Verbesserung der eigenen Situation befördert und soziale Ausgrenzung vermieden wird.

 

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vorzulegen, welcher folgende Anforderungen erfüllt:
a) der Grundbedarf sowie die Kosten der Unterkunft und Heizung werden von Sanktionen ausgenommen; deshalb dürfen höchstens 10 Prozent des Regelsatzes gekürzt werden; bei Kürzungen über 10 Prozent des Regelsatzes sind antragslos entsprechende Sachleistungen zu erbringen;
b) das geltende verschärfte Sanktionsinstrumentarium für Menschen unter 25 Jahren wird abgeschafft;
c) Sanktionsregeln dürfen keinem Automatismus mehr unterliegen und Sanktionen können bei Verhaltensänderung jederzeit zurückgenommen werden;
d) es dürfen keine Sanktionen verhängt werden, wenn Fähigkeiten, Wünschen und Vorschlägen der Einzelnen nicht Rechnung getragen wird und keine Wahl zwischen angemessenen Förderangeboten besteht;
e) ebenfalls dürfen keine Sanktionen verhängt werden, wenn die Aufnahme von Arbeit verweigert wird, die unterhalb des maßgeblichen tariflichen oder – wenn keine tarifliche Regelung vorhanden ist – des ortsüblichen Entgelts entlohnt
wird;
f) eine Prüfung, wie Sanktionen, bei denen das zu sanktionierende Verhalten Folge eines psychischen Problems ist, verhindert werden können;
g) bei allen Trägern des SGB II sollen unabhängige Ombudsstellen eingerichtet und finanziert werden, die in Konfliktfällen zwischen Leistungsberechtigten und Trägern vermitteln;
h) ein Widerspruch von Leistungsberechtigten gegen die Verhängung einer Sanktion muss aufschiebende Wirkung haben und ist auf Wunsch der Leistungsberechtigten der Ombudsstelle vorzulegen;

2. ein Sanktionsmoratorium zu erlassen, bis diese Gesetzänderungen in Kraft getreten sind, die Sanktionen umfassend evaluiert und die Rechte der Arbeitssuchenden gestärkt wurden.

Zum vollständigen Antrag als PDF auf Bundestag.de