Von Erwerbsarmut in Gute Arbeit - Europäisch denken. Solidarisch handeln

Auf der Konferenz vom 25.09.2019 wurde dem Phänomen der Erwerbsarmut intensiv nachgegangen. Dabei spielte der gegenwärtige Stand der Forschung mit der Beleuchtung von Ursachen und Auswirkungen, auch und gerade vor dem Hintergrund der Digitalisierung, eine entscheidende Rolle. Hier galt es, die Perspektiven der Betroffenen selbst zu berücksichtigen. Vor allem aber geht es darum, pragmatische Lösungsmöglichkeiten zur Überwindung der Erwerbsarmut zu eruieren und zu gestalten. Ich war als Keynote-Speaker zum Thema prekäre Arbeit geladen und habe damit den zweiten Teil der Konferenz eröffnet.

Europaweit gibt es vielversprechende Ansätze, die Wege aus der Erwerbsarmut weisen. Gute Praxis Projekte aus Europa sollen identifiziert, ausgetauscht und weiterentwickelt werden. Was können Politik und Verwaltung, was kann die Wirtschaft, was kann die Gesellschaft als Ganzes aber auch jeder Einzelne zur Überwindung dieses Zustands beitragen? Alle Vorträge und die Zusammenfassung der Diskussionen und Workshops gibt es in diesem Tagungsbericht.pdf 

Auszug aus der Konferenzdokumentation: Von Erwerbsarmut in Gute ArbeitKeynote II  |  13.30  – 14.00 Uhr  und Nachfragen der Moderation

Eingangs stellt Dr. Strengmann-Kuhn vier weit verbreitete Thesen vor (Arm sind vor allem Arbeitslose, Armut trotz Erwerbstätigkeit ist die Ausnahme, erwerbstätige Arme sind üblicherweise nicht vollzeitbeschäftigt, erwerbstätige Arme sind überwiegend Frauen), die aus seiner Sicht allesamt falsch sind.

Die Armutsquote von Erwerbstätigen in Europa liegt 2017 bei 9,4 % (Frauen 9,0 %, Männer 9,8 %). In absoluten Zahlen sind das 20,5 Millionen Menschen mit geringem Einkommen unterhalb der relativen Armutsschwelle – „ein riesiges Problem.“ Deutschland liegt dabei im hinteren Mittelfeld und steht schlechter da als vergleichbare europäische Mitgliedstaaten. Armut wird in der politischen Diskussion in der Regel mit Nichterwerbstätigkeit gleichgesetzt. Arme sind dieser Auffassung nach Rentnerinnen und Rentner, Arbeitslose, Alleinerziehende und Kinder, die jeweils in der Regel nicht erwerbstätig sind. Die aktuelle empirische Sozialforschung zeigt jedoch, dass diese Auffassung falsch ist.      

In Deutschland beziehen 1,1 Millionen Erwerbstätige Arbeitslosengeld II. Zusätzlich, so eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von Herrn Dr. Strengmann-Kuhn, ist von 1 bis 2 Millionen Erwerbstätigen auszugehen, die einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II haben, aber dieses nicht in Anspruch nehmen (verdeckt Arme). Auf Basis der üblicherweise verwendeten Armutsgrenze sind die Zahlen mit 3,2 bis 4 Millionen, die trotz Erwerbstätigkeit arm sind, noch höher. Es gibt also viel mehr erwerbstätige Arme als Arbeitslose in Deutschland. Als Maßnahmen zum Abbau der Erwerbsarmut setzt sich Dr. Strengmann-Kuhn mit folgenden Ansätzen auseinander:

·       ·       Maßnahmen zur Erhöhung des Arbeitseinkommens, z. B. Erhöhung des Mindestlohns, Abbau von Anreizen  für geringfügige Beschäftigung und Teilzeit, Abbau prekärer Beschäftigung, höhere Tarifbindung 
·       höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen, da die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung eine Ursache für Armut trotz Erwerbstätigkeit ist Kindergrundsicherung, damit erwerbstätige Arme nicht wegen der Kinder unter die Armutsgrenze rutschen
·       bessere soziale Absicherung gegen Armut bei Erwerbstätigkeit; Der Regelsatz für das Arbeitslosengeld II   (424 EUR pro Monat für Alleinstehende) sollte angehoben werden. Dabei stellt die sogenannte „Transferentzugsrate“ in Deutschland ein großes Problem dar (ein Betrag bis 100 Euro brutto monatlich ist anrechnungsfrei, ab einem Zusatzverdienst von 101 EUR werden 80 % des übersteigenden Betrages auf das ALG II angerechnet, ab 1.001 EUR werden 90 % angerechnet,   ab 1.201 EUR werden 100 % angerechnet). Die Quintessenz daraus lautet, dass wir eine deutlich geringere Transferentzugsrate benötigen. Hierzulande werden „nicht die Reichsten am stärksten besteuert, sondern die Ärmsten“. Er empfiehlt  des Weiteren die „Grüne Garantiesicherung“, die alle bisherigen Grundsicherungsleistungen ersetzen soll. Die Grenzbelastung könnte auf 70 % reduziert werden. Das würde allerdings relativ teuer. Ein erster Schritt in diese Richtung könnte eine Garantiesicherung für Erwerbstätige als negative Einkommenssteuer sein. Dieses „Tax credit system“ sollte so ausgestaltet werden, dass es zu einer zielgenauen Entlastung für geringe Einkommen führt. Die Abwicklung sollte automatisch über das Finanzamt und nicht über das Jobcenter erfolgen.

Zusammenfassend schlägt er folgende vorrangige Maßnahmen zur Vermeidung von Armut trotz Erwerbstätigkeit vor: 
·       höherer Mindestlohn
·       Eindämmung prekärer Beschäftigung 
·       Abbau geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung 
·       Garantieeinkommen für Erwerbstätige und Kindergrundsicherung

Nachfragen der Moderatorin: 
Was hat sich am meisten verändert seit Ihrer Doktorarbeit Ende der 90er Jahre?

  Zwischen 1995 und 2005 ist der Niedriglohnsektor in Deutschland stark angestiegen, fast genauso stark wie in den USA. 

  Hartz IV: Der Anteil von Menschen, die ergänzende Leistungen beziehen, hat stark zugenommen. Verdeckte Armut hat sich verändert.

Welche Wünsche haben Sie an  die neue EU-Kommission ?

  Mindestlohn auf vergleichbare Ebene stellen in allen europäischen Mitgliedstaaten 

  Mindesteinkommensrichtlinie (viel  wichtiger): eine vernünftige Grundsicherung in allen Ländern

  Europäisches Basis-Kindergeld, um Kinderarmut anzugehen (30 bis 50 EUR). Einen solchen Betrag, der dann mit zusätzlichen nationalen Leistungen verknüpft werden sollte, könnten sich auch ärmere Länder leisten.

In Deutschland erleben wir derzeit mit 44 Millionen Erwerbstätigen eine Rekordbeschäftigung. Diese Entwicklung hat allerdings Schattenseiten. Deutschland verzeichnet im EU-Vergleich den höchsten Zuwachs an Armut trotz Erwerbstätigkeit. Dazu stellte Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung.

Zu den Antworten, der Auswertung und der Medienberichterstattung geht es hier.