Auswertung | 14.04.2016

Rechtsvereinfachung im SGB II - Bürokratieumbau statt Reform der Grundsicherung

Hintergrund

Ende 2012 hatte die Arbeits- und Sozialminister-Konferenz (ASMK) eine Bund-Länder-AG (BLAG) zur Rechtsvereinfachung der passiven Leistungen im Sozialgesetzbuch II (SGB II) eingerichtet. Mitte 2014 legte die BLAG einen Abschlussbericht vor. Er enthielt die Vorschläge, die innerhalb der BLAG Konsens waren. Einen Teil dieser Vorschläge hat die Bundesregierung nun aufgegriffen und noch einige eigene Vorschläge hinzugefügt und im Februar 2016 als Gesetzentwurf im Kabinett beschlossen. 

Reformbedarf

Die staatlichen Leistungen zur Mindestsicherung fußen auf einer Vielzahl von Gesetzen, Verordnungen oder auch Verwaltungsvorschriften; als Beispiele seien hier nur die Sozialhilfe, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, die Grundsicherung für Arbeitssuchende oder das Asylbewerberleistungsgesetz genannt. Das Leistungsrecht unterscheidet sich je nach Gesetz und ist auch selbst kompliziert. Für die Bürgerinnen und Bürger ist es schwer nachzuvollziehen, ob ein Anspruch auf Leistungen besteht und welche Behörde letztlich für die Klärung verantwortlich ist. Viele Bürgerinnen und Bürger nehmen darum Leistungen nicht in Anspruch, die ihnen zustehen, sie vor Armut schützen oder ihre Teilhabe gewährleisten sollen.Diese Unübersichtlichkeit belastet aber auch die Menschen, die diese Gesetze umsetzen oder die Leistungsberechtigten beraten sollen - sei es in den Jobcentern, an den Gerichten oder in den Beratungsstellen. Ein zu hoher Anteil des Personals in den Jobcentern ist zudem mit der Bearbeitung der Anträge und der Berechnung von Leistungen, also mit reinen Verwaltungsaufgaben, beschäftigt. Darunter leidet die Beratung und Förderung der Leistungsbeziehenden. Eine Vereinfachung des Leistungsrechts und eine Entlastung der Jobcenter sind dringend geboten. Das ist jedoch kein Selbstzweck. Eine Reform sollte auf folgende Ziele ausgerichtet werden:

  1. Das Grundrecht auf Existenzsicherung muss zuverlässiger wahrgenommen werden können. Es muss zudem verständlicher werden, auf welche Leistungen Personen in welcher Situation Anspruch haben.
  2. Die Jobcenter müssen von unnötiger Bürokratie befreit werden. Die Mitarbeiter sollen sich darauf konzentrieren können, die Leistungsberechtigten zu beraten und bei der Arbeitsmarktintegration durch passgenaue Hilfen und eine effektive Vermittlung zu unterstützen. 

Über eine Rechtsvereinfachung im Bereich der Grundsicherung hinaus sollten die Jobcenter zudem durch eine Stärkung der vorgelagerten Sicherungssysteme, insbesondere für Erwerbstätige, Familien, Menschen mit Behinderungen und in Bildungsphasen sowie Rentnerinnen und Rentner, entlastet werden. Dadurch müssten deutlich weniger Bürgerinnen und Bürger ihren Mindestbedarf über die Sozialhilfe bzw. die Grundsicherung decken. 

Bewertung des Gesetzentwurfes

Der Gesetzentwurf umfasst eine Vielzahl unterschiedlichster Einzelmaßnahmen. Diese folgen jedoch weder einem klaren Konzept, noch haben sie eine klare Stoßrichtung. Der Gesetzentwurf verheddert sich im Kleinklein und enthält Maßnahmen, die noch mehr willkürliches Sonderrecht für die Leistungsberechtigten schaffen. Nur ein Teil der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Maßnahmen würde tatsächlich dazu führen, dass der Verwaltungsaufwand der Jobcenter sinken würde. Dieses Ziel wurde jedoch häufig nur um den Preis erreicht, dass die Berechtigten Leistungseinschränkungen hinnehmen müssen oder ihre Bedarfe ggf. nicht zuverlässig decken können. Die von der Bundesregierung geplanten Veränderungen beim Leistungsrecht z.B. für Auszubildende, für Aufwendungen für Mietkautionen oder dem Erwerb von Genossenschaftsanteilen und für werdende Mütter werden dazu führen, dass Leistungsbeziehende geringere Leistungen erhalten werden. So sollen werdende Mütter, die vor dem Bezug von Mutterschaftsgeld nur geringfügig erwerbstätig waren, für die Existenzsicherung notwendige aufstockenden Leistungen nur noch als Darlehen erhalten. Diese Darlehen müssen dann aus dem laufenden Regelsatz wieder zurückgezahlt werden, so dass das Existenzminimum nicht gesichert ist. Gleiches gilt für die Darlehen für den Erwerb von Genossenschaftsanteilen. Viele der geplanten Änderungen sind zudem keine Rechtsvereinfachungen, sondern Verschärfungen. So soll das diskriminierende Sonderrecht für Arbeitslosengeld-II-Beziehende noch weiter ausgebaut werden, indem der rückwirkende Anspruch auf rechtmäßig zustehende Leistungen noch weiter eingeschränkt wird. Auch sollen von Leistungsbeziehenden in noch mehr Fällen Leistungen zurückgefordert werden können, wenn sie sich z.B. aus Sicht der Jobcentermitarbeiter nicht ausreichend für die Überwindung der Hilfebedürftigkeit eingesetzt haben (Ausweitung der sogenannten Ersatzansprüche). Dabei ist schon jetzt nicht nachvollziehbar, warum der  Ersatzanspruch erst nach vier Jahren verjährt, während zu Unrecht von den Jobcentern nicht geleistete Leistungen nur bis zu dem zurückliegenden Jahr nachgezahlt werden. Zudem sollen nach dem Gesetzentwurf nach einem Umzug in mehr Fällen nicht die tatsächlichen Kosten der neuen Wohnung übernommen werden, sondern nur die bisher gezahlten Wohnkosten. Weiterhin ist nicht nachzuvollziehen, dass bei vorzeitigem Verbrauch einmaliger Leistungen nicht wie bisher Hilfen zum Lebensunterhalt gewährt werden, sondern nur noch Darlehen. Das erhöht den Verwaltungsaufwand und das Existenzminim wird nicht ausreichend abgesichert. Dagegen scheiterte die Aufnahme selbst kleiner Vereinfachungen bei den Sanktionen in den Gesetzentwurf an der Blockade der CSU. Dazu zählen Maßnahmen, die sowohl in der BLAG (mit Ausnahme von Bayern) sowie bei allen Fachleuten Konsens sind, wie die Abschaffung der verschärften Sanktionsregeln für junge Erwachsene und die Abschaffung von Sanktionen bei den Kosten der Unterkunft. Insgesamt hat die Bundesregierung mit der geplanten Reform eine große Chance vertan.

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Grüne Forderungen für eine echte Rechtsvereinfachung

Es ist dringend notwendig, dass die Sanktionen ausgesetzt werden. Dadurch könnten die Jobcenter unmittelbar und wirksam entlastet werden. Zumindest sollten die Sanktionsregeln deutlich entschärft und vereinfacht werden. Wichtig ist, dass die Autonomie der Leistungsbeziehenden in den Mittelpunkt des Leistungsrechts gerückt wird und nicht, wie bisher, ein fremdbestimmter Ansatz verfolgt wird. Der Grundbedarf sollte generell von Sanktionen ausgenommen werden und die Rechte der Leistungsberechtigten müssen gestärkt werden. Das Mindeste ist, dass die besonders harten Sanktionen für die Unter-25-Jährigen gestrichen und die Kosten der Unterkunft nicht mehr durch Sanktionen gekürzt werden können (Siehe dazu ausführlich den Antrag „Existenzminimum und Teilhabe sicherstellen – Sanktionsmoratorium jetzt“, BT-Drucksache 18/1963). 

Im Sinne einer Vereinfachung sollten auch die anderen Grundsicherungsleistungen mit in den Blick genommen werden, um ein konsistentes und transparentes Grundsicherungssystem zu schaffen. Bei sachlich gleichen Tatbeständen sollten auch gleiche Leistungen gewährt werden. Das ist derzeit oftmals nicht der Fall.

Ein Einstieg in eine Individualisierung der Leistungen durch die so genannte „vertikale Einkommensanrechnung“ wie sie im SGB XII praktiziert wird und auch von den Trägern der Grundsicherung, der Bundesagentur für Arbeit, dem Städte- und dem Landkreistag gefordert wird. Damit könnten sich die Jobcentermitarbeiter auf die Personen konzentrieren, die auch wirklich kein für sich ausreichendes Einkommen erwirtschaften. 

Das Bildungs- und Teilhabepaket, bei dem Verwaltungsaufwand und Nutzen für die Leistungsberechtigten in keinem Verhältnis zueinander stehen, sollte abgeschafft und die Leistungen teilweise in den Regelsatz eingegliedert und teilweise für einen kostenlosen Anspruch auf Sachleistungen durch verbesserte Angeboten von Schulen und Kitas verwendet werden. 

Überfällig sind auch transparente und bedarfsdeckende Regeln bei den Kosten der Unterkunft. Streitfälle zu diesem Punkt machen einen großen Teil der rechtlichen Streitfälle aus. Notwendig sind hier gesetzliche Rahmenbedingungen und Mindeststandards für die Angemessenheit der Kosten der Unterkunft. Zudem muss sichergestellt sein, dass die Kosten für angemessenen Wohnraum auch übernommen werden. 

Auch sollte eine weniger verwaltungsaufwändige und bedarfsdeckende Lösung für getrennte Eltern geschaffen werden, deren Kinder zwischen den Haushalten der Eltern wechseln. Dazu sollte auch ein Umgangsmehrbedarf bewilligt werden, damit die Kosten für Bettwäsche, Schreibtisch etc. in beiden Haushalten auch wirklich gedeckt sind.

Schließlich könnten über diese Maßnahmen zur Rechtsvereinfachung hinaus die Jobcenter dadurch entlastet werden, dass vorgelagerte Sicherungssysteme gestärkt werden. So sind insbesondere viele Erwerbstätige nur aufgrund hoher Wohnkosten oder weil sie Kinder haben auf aufstockendes Arbeitslosengeld II angewiesen und viele Alleinerziehende rutschen in die Grundsicherung, weil der steuerliche Familienlastenausgleich vor allem Ehepaare entlastet. Und auch Personen in Ausbildung sollten nicht durch Arbeitslosengeld II ihr Einkommen aufstocken müssen. All diese Gruppen verursachen in den Jobcentern einen Verwaltungsaufwand, der besser für die Unterstützung von Langzeitarbeitslosen verwendet werden sollte.